Lobbyismus für Fußgänger : Tempo frisst Lebenszeit – Langsamkeit schenkt sie

Lobbyismus für Fußgänger kann beglücken: Es geht um Einjährige bis 111-jährige, um Obdachlose wie um flanierende Millionärinnen. Füße hinterlassen keinen ökologischen Fußabdruck, der darum besser „Reifenabdruck“ hieße. Wer geht, beansprucht am wenigsten Fläche, hat selbst und verursacht der Gemeinschaft die niedrigsten Kosten, braucht weder Fahr- noch Führerschein. Der Gehweg ist der einzige Ort, auf dem sich alle begegnen. Und er ist der einzige im Verkehr, an dem für Menschen ohne Fahrzeug und sperriges Gepäck überhaupt keine Vorschriften gelten. Ein regelfreier Raum, und das in Deutschland! "Unfälle" sind nicht systemwidrig, sondern integraler Bestandteil unseres Verkehrs.
Es gibt aber auch sehr deprimierende Momente: Vorige Woche die Mahnwache für einen vom LKW Getöteten in Rudow. Diese Woche für die 91-jährige Rollstuhlfahrerin, die in Rahnsdorf auf dem Zebrastreifen zu Tode gerammt wurde. Und nächste? Landläufig heißt das „Unfälle“, das klingt ähnlich wie Zufall – ein systemwidriges Ereignis, nicht die eingeplante Norm. Das Schlimme ist aber: Die sogenannten Unfälle sind nicht systemwidrig, sondern ein integraler Bestandteil unseres Verkehrs. Er ist durch Straßenbau, Technik, Regeln und deren Nicht-Überwachung so organisiert, dass immer wieder „Unfälle“ geschehen müssen. Er ist zu schnell, zu kompliziert, zu unübersichtlich, so dass er immer wieder beim Fahren und Gehen überfordert. Raserei beginnt nicht erst bei wilden Autorennen.
Fahrbahnen sind breit, scheinbar übersichtlich und nicht unterbrochen. Das lädt zur Raserei ein, das macht das Überqueren oft gefährlich und manchmal tödlich. Raserei beginnt nicht erst bei wilden Autorennen. Schon bei Tempo 50 braucht ein Autofahrer im Schnitt 27 Meter, bis er reagiert, bremst und anhält. Bei Tempo 30 sind es nur 13 Meter – das vermeidet mehr als die Hälfte aller Unfälle in solchen Situationen. Und wenn sie doch noch passieren, sind sie viel harmloser: Wird ein Fußgänger mit 50 Stundenkilometern gerammt, ist die Todesgefahr viermal so hoch wie bei 30. Im Ort muss 30 zur flächendeckenden Regel, dagegen 50 zur Ausnahme werden.
Zwar haben wir viele Tempo-30-Zonen, aber sie sind ein Flickenteppich, werden im Schilderwald übersehen oder nicht ernst genommen. Darum müssen sich die Verhältnisse umkehren: Im Ort muss 30 zur flächendeckenden Regel, dagegen 50 zur Ausnahme werden, auf die die Schilder hinweisen. Natürlich braucht das entsprechende Überwachung. Das heutige Tempo 50 dagegen ist ein Bestandteil des Systems Verkehr, der die „Unfall“-Wahrscheinlichkeit drastisch erhöht und die Folgen verschlimmert. Die Tempo-50-Regel fährt über Leichen. Gleichzeitige Grünphasen entzerren und unübersichtliche Kreuzungen umbauen
„Bei Rot sollst Du stehn, bei Grün kannst Du gehen.“ Der erste Teil des Kinderverses stimmt natürlich. 189 Fußgänger verunglückten 2017 bei Rot. Aber der zweite bringt Berlins Kinder und Erwachsene in Lebensgefahr, wenn sie ihn vertrauensvoll-unbesehen befolgen. Die Ampeln der Stadt sind so geschaltet, dass die Polizei 2017 genau 455-mal „Falsches Verhalten von Fahrzeugführern an Fußgängerfurten“ als Crash-Ursache aufnahm. Ins Alltagsdeutsche übersetzt, bedeutet das: 455-mal wurden Fußgänger bei Grün angefahren. Meist nicht von Rotlichtfahrern, sondern von solchen, die um die Ecke bogen und auch Grün hatten. Experten, etwa die renommierte Unfallforschung der Versicherer (UdV) raten längst, solche Grünphasen zu entzerren und unübersichtliche Kreuzungen umzubauen. Die Ampelschaltungen in Berlins Verkehrsleitzentrale setzen weiter Leben und Gesundheit aufs Spiel: Am 22. August starb bei Doppel-Grün eine 23-jährige in Schöneberg, am 5. September eine 71-jährige in Buckow. Am 10. Oktober kam eine gleich alte Dame in Hohenschönhausen fast ums Leben.
Auch der deutsche Bußgeld-Katalog trägt nur symbolisch zum Schutz von Leben und Gesundheit bei. Wer zum Beispiel in der Tempo-30-Zone unverantwortliche 53 Stundenkilometer rast, zahlt lächerliche 35 Euro. Fast überall in Europa ist es teurer: In Frankreich zum Beispiel können vergleichbare Verstöße 135 Euro kosten.Gefährliches, illegales Parken an Kreuzungen ist derzeit ein fast unbestraftes Massendelikt.
Noch vieles mehr führt zu „Unfällen“, nicht zu Sicherheit: LKWs, aus denen man nicht einmal richtig nach vorn gucken kann (Fußgängertod am 8. Oktober). Geschweige denn, beim Abbiegen zur Seite. Oder das illegale Parken an Kreuzungen als fast unbestraftes Massendelikt, worauf dann im Polizeibericht steht: „Fußgänger trat plötzlich hinter Sichthindernis hervor.“ Oder Straßenlaternen, die absurderweise dorthin leuchten, wo alle Verkehrsteilnehmer ohnehin Scheinwerfer haben. Die aber diejenigen im Dunkeln lassen, die nichts weiter als ihre Augen bei sich führen.
Oft müssen Kosten als Begründung herhalten, noch öfter „Verkehrsfluss“, also letztlich Zeitgewinn. Aber nicht einmal das stimmt. Ein Kilometer mit Tempo 30 statt 50 dauert bescheidene 48 Sekunden länger. Unzumutbar? Berlin mutet Fußgänger heute an einer einzigen großen Kreuzung bis zu 200 Sekunden in Dieseldreck, Lärm und auf gefährlichen Mittelinseln zu, bis die rote Ampel-Welle sie an die Ecke gegenüber lässt. Das ist Alltag. Die vernichtete Lebenszeit, die geraubte Lebensqualität bei Verletzten, für immer Behinderten und Traumatisierten ist der finstere Abgrund der Zeitvernichtung.Der scheinbar langsamere Straßenverkehr ist effizient, fast staufrei, viel weniger unfallträchtig.
Umgekehrt, nämlich mit Fahrradreifen und noch mehr mit Schuhen, wird ein Schuh draus: Der scheinbar langsamere Straßenverkehr ist effizient, fast staufrei, viel weniger unfallträchtig. Nebenbei brauchen wir viel weniger Arbeitszeit, um seine Kosten zu verdienen. Und last not least verlängert nichts so sehr das Leben wie gesunde Bewegung im Alltag.
Fazit: Die Blutopfer des Tempo-Kults sind nicht nur schrecklich, sondern verfehlen auch den Zweck des Kults. Zu viel Geschwindigkeit spart nicht Zeit, sondern frisst sie. Scheinbare Langsamkeit dagegen schenkt Zeit. Das im Hinterkopf, ist Lobbyismus für Fußverkehr ein großes Vergnügen.