Bundespolitik hängt hinterher : Lebensqualität als Maxime der Verkehrswende

Expertise:
Mitglied des Bundestags, Bündnis 90/Die Grünen
Politisch Verantwortliche betonen gerne, die Lebensqualität der Menschen verbessern zu wollen. Auch in der aktuellen Debatte um die Verkehrswende spielt dieses Ziel eine wichtige Rolle. Aber nicht alle sehen die Notwendigkeit einer Verkehrswende. Geht das – ja zu mehr Lebensqualität, nein zur Verkehrswende – überhaupt zusammen? Physische Bewegung auf dem alltäglichen Weg zur Arbeit führt zu größerem generellen Wohlbefinden.
Wie Debattenteilnehmer dazu stehen
„Lebensqualität“ ist ein komplexer und unscharfer Begriff. Deren Einschätzung ist subjektiv und hängt von sozialen, kulturellen, ökologischen und ökonomischen Aspekten ab. Sie auf Verkehrsinfrastruktur zu reduzieren greift zu kurz. Ebenso bedeutend sind etwa die Verfügbarkeit bezahlbaren Wohnraums, Grünflächen im Wohnumfeld, das Kulturangebot oder das Stadtklima.
Dennoch scheint ein Zusammenhang zwischen Verkehr und Lebensqualität naheliegend. Britische Forscher haben herausgefunden, dass physische Bewegung auf dem alltäglichen Weg zur Arbeit zu größerem generellen Wohlbefinden führt. Ein Stück des Weges zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück zu legen macht glücklich. Allerdings nur, wenn dabei nicht das eigene Leben auf dem Spiel steht – so wie dieses Jahr in Berlin und anderen Städten schon viel zu häufig geschehen – und nur wenn man nicht durch soziale Umstände zur Nutzung kostengünstiger Verkehrsmittel gezwungen wird.
Der Abgleich von Studien zum sogenannten Modal Split (Verkehrsanteile von verschiedenen Verkehrsträgern) in deutschen Städten mit Umfragen nach der jeweiligen Lebensqualität fördert interessante Zusammenhänge zu Tage: Die Lebensqualität ist in den Städten höher, in denen es einen geringen Anteil an Autoverkehr und einen hohen Anteil an Fuß- oder öffentlichem Verkehr gibt. Frankfurt und München sind zwei Städte, denen eine hohe Lebensqualität zugesprochen wird. In beiden Städten werden vergleichsweise wenige Wege mit dem Auto zurückgelegt. Stattdessen spielt der öffentliche Nahverkehr oder der Fußverkehr eine weitaus größere Rolle. Im Gegensatz dazu rangieren Städte wie Bochum oder Saarbrücken bei der Lebensqualität auf den hinteren Plätzen. Diese Städte sind auf den Autoverkehr ausgerichtet und nur wenige Wege werden zu Fuß, mit dem Rad oder dem öffentlichen Nahverkehr zurückgelegt. Auf Bundesebene bewegt sich bisher wenig, Städte wollen nicht mehr auf Bundesregierung warten.
Maßgeblich verantwortlich dafür, in welcher Intensität welche Verkehrsträger genutzt werden, ist die Verkehrs- und Raumplanung der politischen Entscheidungsträger – auf allen Ebenen. Es ist gut, dass einzelne Bundesländer und Städte nun selbst das Heft in die Hand nehmen – sei es mit einem guten Angebot von Bussen und Bahnen oder einer besseren Infrastruktur für Radfahrende. Als Politiker auf der Bundesebene muss ich jedoch feststellen, dass sich hier bislang wenig bewegt. Die Städte gehen voran, weil sie in Sachen Mobilitätswende nicht mehr auf die Bundesregierung warten wollen. Dafür haben wir, mit Blick auf unsere Lebensqualität und die Erfordernisse des Klimaschutzes, keine Zeit.Dem Rad- und Fußverkehr gehören mehr Aufmerksamkeit und vor allem mehr Fläche gewidmet.
Welche Konsequenzen müssen wir ziehen? Die Stadt- und Verkehrsplanung gehört strikter an der Lebensqualität der Menschen ausgerichtet. Wo es einen gut ausgebauten und verlässlichen öffentlichen Nahverkehr gibt, bleibt das Auto eher stehen. Sind die Siedlungsstrukturen der Städte kompakt und die Wege relativ kurz, bewegt man sich eher mit dem Fahrrad oder zu Fuß zu seinen Zielen. Es muss darum gehen, die Bus- und Bahnangebote konsequent auszubauen und optimal aufeinander abzustimmen. So werden auch die Menschen angebunden, die einen weiteren Weg haben. Dem Rad- und Fußverkehr gehören mehr Aufmerksamkeit und vor allem mehr Fläche gewidmet. So wird für immer mehr Menschen Mobilität ohne Abhängigkeit vom (eigenen) Auto einfacher und attraktiver. Unsere Luft wird dadurch sauberer, die Lärmbelastungen gehen wohltuend zurück. Flächen, die heute noch mit Autos belegt werden, können mancherorts als Grünanlagen oder durch Gastronomie genutzt werden. All das bedeutet wiederum höhere Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger.
Es fehlt nicht an Visionen, wie die Mobilität der Zukunft aussehen kann. Aber es fehlt an einem mutigen Bekenntnis zum Wandel: An einem Konsens über alle politischen Ebenen hinweg, dass der Einsatz für nachhaltige Mobilitätslösungen jetzt Priorität haben muss.