Liberale Sicht aus Friedrichshain-Kreuzberg : In fast jedem Berliner steckt ein Radfahrer, wir müssen ihn nur wecken!

Großstädte, insbesondere so schnell wachsende wie Berlin, stehen vor besonderen mobilitätspolitischen Herausforderungen. Die Diskussion um Stickoxide und Diesel ist nur die Spitze des Eisberges. Natürlich gibt es Bedürfnisse, die sich kaum ändern werden. Die Handwerkerin bleibt auf das Auto angewiesen, das ältere Ehepaar benötigt einen gut funktionierenden ÖPNV. Wir brauchen also einen effizienten Mobilitätsmix. Es geht am Ende auch um schnelles Vorankommen und um die Lebensqualität in einer Stadt. Dafür müssen wir unsere Verkehrsinfrastruktur fit machen, miteinander vernetzen und die Chancen der Digitalisierung nutzen. Das ist Pflicht. Darum soll es hier jedoch nicht gehen. Lassen Sie uns über die Kür sprechen! Das Fahrrad ist die größte Chance in Berlin.
Die größte Chance von Städten wie Berlin ist eine Erfindung aus dem frühen 19. Jahrhundert: das Fahrrad. Vergleicht man die Menschen, die in den Städten Kopenhagen, Berlin und Sydney auf dem Sattel sitzen, fällt ein Unterschied auf: In Kopenhagen nutzen 50% der Berufspendler und Pendlerinnen das Fahrrad, man entdeckt sowohl die Managerin im Anzug als auch den Bauarbeiter. In Berlin konzentriert sich das eher auf die jungen, hippen, digitalen Mitdreißiger. In Sydney hat man den Eindruck, es würden nur Sportlerinnen und Sportler Rad fahren. Wie schafft es also Kopenhagen, dass die Breite der Gesellschaft das Rad benutzt – und zwar aus Überzeugung? Oder mit anderen Worten: Wie wecken wir den Radfahrer im Autofahrer? Das Fahrrad bedient das Bedürfnis nach Individualverkehr und Freiheit.
Der Drahtesel weist unschlagbare Vorteile auf: Der Platzbedarf ist äußerst gering und kaum größer als der Mensch, den er transportiert; Radfahren ist gesund, umweltfreundlich und man ist gerade in der Rush Hour schneller am Arbeitsplatz als mit jedem anderen Verkehrsmittel. Das Fahrrad wird auch deshalb immer beliebter, weil es das Bedürfnis nach Individualverkehr und Freiheit bedient. Und nicht zuletzt macht es schlichtweg glücklich, Rad zu fahren. Warum nutzt es dann nicht fast jede und jeder? Wir brauchen eine andere Mentalität und einen anderen Umgangston.
Um das Radfahren als Chance für die städtische Verkehrspolitik zum Erfolg zu führen, brauchen wir mehr als nur eine bessere Infrastruktur – wir brauchen eine andere Mentalität, eine andere Art und einen anderen Umgangston. Denn die Diskussion um die Entwicklung der Mobilitätspolitik ist viel zu sehr getrieben von Kampfradlern auf der einen Seite und Autofahrenden mit Verlustängsten auf der anderen Seite. Die Entscheidung fürs Rad muss freiwillig geschehen, um nachhaltig zu sein.
Abgesehen von diesen Extremen steckt jedoch in den meisten Menschen Autofahrerin, Radfahrer, ÖPNV-Nutzer und Fußgängerin. Ein Kampfschauplatz ist nicht einladend, sondern zerstört jegliche produktive Kommunikation. Wir brauchen aber gerade die Autofahrenden, die wir mit guten Argumenten überzeugen müssen. Das schaffen wir nicht durch Verpflichtungen oder gar, indem wir sie an den Pranger stellen. Am Ende wird und muss er oder sie die Entscheidung schließlich selbst treffen. Und dies muss freiwillig und aus Überzeugung geschehen, um nachhaltig zu sein.
Hierbei helfen die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie. Das eher neue Forschungsfeld verbindet die klassische Wirtschaftslehre, die auf der Annahme rationalen Verhaltens basiert, mit Erkenntnissen und Methoden der Psychologie und zeigt damit, dass viele Verhaltensmuster und Entscheidungen geprägt sind von Intuition, Automation und Instinkten. Obwohl Menschen sich vornehmen, gesünder zu leben, mehr Sport zu treiben oder mehr für das Alter vorzusorgen, verhalten sie sich oft irrational, entgegen ihrem rationalen Verstand. Gerade Gewohnheiten und Langzeitverhalten, wie eben auch die Art der Fortbewegung, sind davon betroffen. Die Umsetzung muss schnell und vor allem sichtbar geschehen.
Die Barrieren, die uns vom Radfahren abhalten, sind vielfältig. Die Infrastruktur ist natürlich entscheidend, insbesondere beim Bau gilt es aber auch, die Wahrnehmbarkeit zu nutzen. Es ist schön, dass viele Forderungen der Initiatoren des Berliner Radentscheids jetzt umgesetzt werden sollen. Das Problem ist nur: Man merkt es nicht. Die Umsetzung muss schnell und vor allem sichtbar geschehen! Nur so nutzt man den psychologischen Effekt der Wahrnehmung (die sog. Salienz): Sobald die Menschen merken, es tut sich was, werden sie sich mit der Entscheidung der Verkehrsmittelwahl neu auseinandersetzen. Denn der Mensch braucht einen äußeren Anstoß, um bisherige Angewohnheiten zu durchbrechen. Der Vorschlag der Radbahn direkt unter der U1 hätte eine enorme Wahrnehmbarkeit und dadurch das Potenzial, viele Menschen aktiv über ihre Verkehrsmittelwahl nachdenken zu lassen. Stattdessen werden jetzt klassische Radwege an den Straßenbahnrand gebaut – und die Parkplätze unter die U1 verlegt.
Die Sicherheit im Verkehr ist elementar für die Entscheidung für das Fahrrad. Aber gerade hier mangelt es an Wahrnehmbarkeit. Was wir ständig wahrnehmen, sind Mahnwachen über Verkehrstote im Radverkehr. Wir nehmen hingegen nicht wahr, dass Gefahrenstellen schnell und unbürokratisch entschärft werden; das wäre jedoch die wichtige Botschaft. Ein großer Verwaltungsakt ist hierfür in vielen Fällen nicht notwendig. Experimente zeigen, dass einfache Maßnahmen wie fluoreszierendes Klebeband als Straßenmarkierung z.B. an Baustellen Abhilfe schaffen können, wenn die Trennung von Fußgängern/Fußgängerinnen und Radfahrenden durch die Baustelle aufgehoben wird. Dieses so genannte Nudging erhöht mit wenig Aufwand die Sicherheit enorm.Mehr über E-Bikes als über das Luxusgut Tesla reden.
Schließlich sind auch größere Entfernungen eine Barriere. Das E-Bike hat das Potenzial, weitaus mehr Menschen zu erreichen, denen das Radfahren von Marzahn nach Charlottenburg verständlicherweise zu mühsam erscheint. Warum sprechen wir über die Förderungen des Luxusgutes Tesla, aber nicht über die Möglichkeiten, die ein E-Bike bietet?
In einer kürzlich veröffentlichten Serie an Studien (The Bike Shed Studies) haben HSBC UK zusammen mit British Cycling verhaltensökonomisch untersucht, wie man Menschen in Großbritannien das Radfahren schmackhaft machen kann. Eine zentrale Erkenntnis daraus ist, dass oft sehr kleine Änderungen im Entscheidungskontext einen großen Einfluss auf das Ergebnis haben.
Ein Resultat dieser Studie ist die Bedeutung der oben angesprochenen Tonalität. So zeigen die Forscherinnen und Forscher in einem Experiment, dass die Nutzung des Rades als Verkehrsmittel um 15% ansteigt, wenn die Botschaft, dass Radfahren schlicht Freude bereitet, erfolgreich vermittelt wird. Das klingt auf den ersten Blick theoretisch, ist aber von entscheidender Bedeutung. Wir werden Autofahrende nicht vom Radfahren überzeugen, wenn wir ihnen vermitteln: „Wir nehmen dir den Parkplatz weg, damit dort Radabstellplätze entstehen.“ Das wird besonders dann zu einer Abwehrhaltung führen, wenn erkennbar andere Alternativen möglich gewesen wären. Das Ergebnis: Man bleibt zum Trotz Autofahrer.Werbung fürs Radfahren muss sichtbarer und spürbarer werden, zum Beispiel in Bürgerämtern und Arztpraxen.
Eine zweite Erkenntnis beruht auf dem Phänomen des erfahrbaren Lernens. Wenn Menschen Informationen in lebensnahen, spürbaren Kontexten aufnehmen, hat dies einen viel größeren Einfluss auf sie als Informationen, die sie beispielsweise nur in Büchern oder Werbebroschüren lesen. Die Forscher und Forscherinnen haben hierzu Virtual Reality-Brillen genutzt und die Freude des Radfahrens sehr direkt und spürbar an Versuchspersonen vermittelt. Die Bereitschaft, das Rad als Verkehrsmittel wiederzuentdecken, war um 39% höher als bei der Vergleichsgruppe. Auch das kann praktisch genutzt werden. In Bürgerämtern oder Arztpraxen könnte auf diese Weise für das Radfahren geworben werden und damit die Auseinandersetzung mit der Frage der Verkehrsmittelwahl unterstützt werden.
Drittens wurde deutlich, dass bei derartigen Änderungen von gewohntem Verhalten (Autofahren zu Fahrradfahren) eine gewisse Verbindlichkeit dazu beiträgt, dass eigene Ziele umgesetzt werden. Gerade wenn diese Verbindlichkeit selbst und freiwillig gesetzt wird, hat sie Erfolg. Wenn diese Verbindlichkeit durch das soziale Umfeld unterstützt wird, umso besser. Berlin könnte eine App ins Leben rufen, die das Radfahren dokumentiert. Eine Plattform, die die gefahrenen Strecken honoriert und einen Wettbewerb ausruft. Es könnte eine Radfahrerin des Monats geben und vieles mehr. Berlin sollte eine kleine und schlagkräftige Arbeitsgruppe ins Leben rufen.
Es gibt in der Tat viele Baustellen für die Verhaltensökonomie. Berlin sollte eine kleine und schlagkräftige Arbeitsgruppe, angelehnt an das britische „Behavioral Insights Team“, ins Leben rufen und sich damit um diese kleinen, kostengünstigen und freiheitsbewahrenden, aber wirkungsvollen Lösungen kümmern. Das wäre nicht nur Kür, sondern öffnet auch die Tür für eine lebenswertere Stadt für alle.