Ideen aus den Niederlanden : Das Verkehrs-Startup Berlin braucht eine Fahrradbürgermeisterin wie Amsterdam

Als ich als Neuberliner aus Amsterdam hierher kam, war mir aus niederländischer Sicht gleich klar: Das Auto ist der absolute Herrscher im Berliner Verkehr. Es gibt in Berlin ein komisches Verhalten im Verkehr und eine von Machismo geprägte Hierarchie. Für Radfahrer gibt es wenig Platz, sie werden oft beschimpft und selten geschützt. Über Fußgänger wird überhaupt nicht geredet.
Autofahren ist relativ günstig, Bußgelder für Falschparker sind niedrig. Es gibt dazu eine belehrende, auf Gesetzen und Regeln basierte Mentalität, wobei das Auto in der Fahrzeughierarchie als das Maß der Dinge gesehen wird. Alles konzentriert sich auf eine gute Fahrt für Autobesitzer.
Ein fließendes Zusammenbewegen im Verkehr gibt es wegen der schlechten infrastrukturellen Bedingungen und wegen der verärgerten Verkehrsteilnehmer leider überhaupt nicht. Zu viele Lkw sind in der Innenstadt unterwegs. Busstreifen sind hier oft gleichzeitig Fahrradwege. Ein vernünftiges Ampelmanagement ist auch nicht vorhanden. Und die Radfahrer fahren genervt in der Stadt herum.
Die Diskussionen über Verkehrspolitik sind hier in Berlin sehr emotional. Gerichtsverfahren und gegenseitige Belehrungen scheinen hier erfunden worden zu sein, aber das löst leider keine Verkehrsprobleme und verhindert auch nicht die viele tödlichen Unfälle.
Über mehrere Jahren organisiere ich professionell den Austausch zwischen Städten in den Niederlanden und Deutschland. Fast immer reden wir dabei über Urbane Mobilität. Sowohl München als Berlin haben die Region Amsterdam-Utrecht auf politische und Verwaltungsebene besucht. Regensburg, Stuttgart und Karlsruhe werden folgen.Berlin braucht mehr Einbahnstraßen für Autos, weil Straßen dann ruhiger und übersichtlicher werden.
Es gibt in den Niederlanden supertolle, alte und neue Konzepte. Tolle neue Parklösungen für Fahrräder, noch mehr Einbahnstraßen für Autos (so einfach und Berlin braucht davon viel viel mehr, weil Straßen viel ruhiger und übersichtlicher werden), noch breitere Fahrradwege (auch wegen der verschieden Geschwindigkeiten im Radverkehr), verbessertes Verkehrsmanagement, weniger Motorräder, mehr Park + Ride, shared space, multimodale Hubs, eCar-Sharing, Feinmäßige E-Citylogistik mit kleinen Lkw und Lastenrädern, Experimente für anderes Verkehrsmittelverhalten von Mittarbeitern (Förderprogramme für mehr Fahrrad und ÖPNV), usw. Wir arbeiten so viel wie möglich mit offenen Daten, oft zusammen mit den Einwohnern und Firmen. Alles damit die Stadt der Zukunft eine lebenswerte Stadt ist, in der Familien, Ältere und junge Leute ihren Weg finden.In Berlin geht es mit Innovationen recht langsam voran.
Alle sind sich in Holland über eine Sache einig: weniger Pkw-Verkehr und weniger (große) Lkw in der Stadt bedeutet weniger Gefahr, mehr Gesundheit, besser nutzbaren Öffentlichen Raum, und voilá, eine lebenswerte Stadt. Und wirklich niemand redet dann über Helmpflicht oder Polizeiberatung für kanariengelbe Sicherheitswesten.
Die Delegationsmitglieder waren oft begeistert über die Innovationen, die es in Holland gibt. München ist schon etwas weiter. In Berlin geht es mit Innovationen im Verkehrsbereich jedoch leider recht langsam voran.
Die Bedingungen sind gut, Berlin könnte die lebenswerteste Stadt der Welt sein.
Obwohl eigentlich die Vorbedingungen für eine lebenswerte Stadt in Berlin gar nicht so schlecht sind. Oder besser, Berlin könnte die beste und vor allem lebenswerteste Stadt der Welt sein. Berlin hat, im Vergleich zu fast allen Großstädten, die perfekten Bedingungen, um alles richtig zu machen (nicht nur bei der Verkehrspolitik…). Es ist flach, es gibt so viel Platz, breite Straßen, breite Gehwege, unglaublich viel Grün und Wasser, ein tolles ÖPNV-Netz, tolle Wissensinstitute und (!!!) begeisterte aktive Bürger. Amsterdamer können da neidisch werden. Aber es ist hier für Fußgänger oder Radfahrer noch immer äußerst heikel, eine Straße zu überqueren.
Mit all seinen Chancen, muss in Berlin jetzt doch endlich mal einiges umgesetzt werden. Metropolregionen wie Amsterdam und Kopenhagen haben sich in den letzten 30 Jahren auf innovative Art und Weise weiterentwickelt. Metropolen wie London, Paris oder New York sind schon länger unterwegs, die Städte lebenswerter zu machen. Paris, London und New York, mit umweltliebenden Bürgermeistern wie Sadiq Khan oder Anne Hidalgo, tun in Kommunikation und Aktion ihr Bestes. Aber diese Städte haben eine viel schwierigere Situation als Berlin. Es wäre so einfach für die Berliner Politik eine zukunftsorientierte Botschaft zu entwickeln und umzusetzen und allen anderen Weltmetropolen voraus zu sein.Es wird in Berlin viel zu schnell gefahren, Autofahrer verhalten sich offensiv statt defensiv.
Was soll sich in Berlin verbessern? Die Mentalität. Was würde dabei helfen? Eine bessere Infrastruktur und Verkehrsmanagement. Berlin braucht dringend eine andere Verkehrsmentalität. Es wird in Berlin in der urbanen Umgebung leider viel zu schnell gefahren und Autofahrer verhalten sich oft offensiv statt defensiv.
Dass man defensiv fahren soll, lernt man in den Niederlanden schon in der Fahrschule. Man lernt immer auf die andere Verkehrsteilnehmer zu achten, Rechts Raum zu lassen für Fahrräder und mit Parken zu warten bis man dabei niemanden hindert.
Natürlich sollten auch Radfahrer und Fußgänger aufpassen und sich richtig benehmen. Aber vor dem Gericht haben Autofahrer fast immer Schuld, auch wenn ein langsamerer Verkehrsteilnehmer etwas falsch gemacht hat. Der Autofahrer ist im Auto besser geschützt als alle andere Verkehrsteilnehmer und soll deswegen defensiv fahren.
Defensiver fahren und sich fließend und kompromissbereit zusammen zu bewegen sollten neue, wichtige Elemente im Verkehrsbenehmen sein. Autofahrern sollen sich bewusst sein, dass Radfahrer und Fußgänger verletzlicher sind. Einfach vorsichtig fahren ist keine Schande. Man kommt in der Stadt nicht langsamer ans Ziel, wenn man etwas vorsichtiger fährt und rechtzeitig bremst, auch wenn man eigentlich Vorfahrt hat.
Mentalitätswandel muss durch Infrastruktur unterstützt werden.
Eine Mentalität verändert sich nicht über Nacht, deren Wandel sollte unterstützt werden von infrastrukturellen Änderungen. Geschützte Fahrspuren für Radfahrer, weniger Spuren für Autos, mehr Einbahnstraßen, Geschwindigkeitsschwellen für Autos, mehr Zebrastreifen usw. Genau wie es in Amsterdam und Kopenhagen vor mehr als 30 Jahren anfing und jetzt auch in vielen anderen Metropolen passiert. Aber damit sollte es jetzt in Berlin auch richtig anfangen.
Straßen wie Bismarckstraße/Kaiserdamm, Kantstraße oder Frankfurter Allee könnten gut befahrbare lebenswerte Straßen sein, aber sind jetzt alles andere als das. Auch auf Tempo-30-Straßen ist eine sichtbarer Schutz oder eine Trennung für Radfahrer ab und zu notwendig. Oder eine Fahrradstraße, wo das Auto „zu Gast“ ist. Eine deutsche Erfindung, aber zum Beispiel in Amsterdam auch wirklich umgesetzt. Für schöne Fahrradrouten in grüne Bereiche wie Tiergarten oder entlang der Wasserwege wie an der Spree in Köpenick gibt es alle Möglichkeiten. Geht alles sehr gut und ist oft gar nicht so teuer.Höchste Zeit für Verbesserungen, bevor Familien und junge Leute Berlin verlassen, weil es anderswo lebenswerter ist.
Zum Glück sieht man, dass es in Berlin mittlerweile eine kritische Masse gibt, die die Politik bewegen kann, wie auch die Initiatoren des Radentscheids gezeigt haben. Die Dringlichkeit für eine neue radfreundliche Verkehrspolitik hat die Berliner Politik erreicht. Nach Jahrzehnten lebensfeindlicher Politik des Stillstands, kann der Berliner Senat sich nicht mehr hinter Sparmaßnahmen und Armut verstecken. Der neue Senat plant, zumindest auf dem Papier, angetrieben von Bottom-Up-Protest, schöne neue Projekte. Er finanziert endlich mal Initiativen mit ein bisschen Investitionen. Es gibt aber so viel mehr Potenzial für Verbesserungen. Und jetzt ist es Zeit, richtig Tempo zu machen, bevor es zu spät ist und Familien und junge Leute diese Stadt wieder verlassen, weil andere Städte viel lebenswerter als Berlin sind.
Aber als Wahlberliner tut es mir leid, wenn ich Vorschläge gegen die Interessen der nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer lese. Es kommt leider aus fast allen politischen Richtungen: Sozialdemokraten, die höhere Bußgelder und Helmpflicht für Radfahrer wollen; Freidemokraten, die die Leipziger Straße als Autobahn betrachten; Christdemokraten, die lieber eine schmutzige gefährliche Frankfurter Allee haben anstatt einen lebenswerten Großstadtraum; Linke, denen alles egal ist, wenn man nicht über die absurde Mietsteigerung spricht.
Als fortschrittliebender Holländer wünsche ich mir, dass diese fantastische Stadt und ihre Politiker etwas mehr Mut hätten, das Potenzial der Stadt zu nutzen und nicht in Rückzugsgefechten hängen blieben. Zum Glück gibt es auch Politiker wie Senatorin Regine Günther, Staatssekretär Jens-Holger Kirchner, oder Sybille Uken von der SPD mit Sachverstand und guten Einsichten. Aber diese Politikern brauchen mehr Raum in der und für die Stadt.Berlin braucht eine Verkehrspolitik ohne alte Machtstrukturen und politische Spielchen.
Gerade jetzt braucht auch die Stadt Berlin eine Politik, die nicht wieder auf alte Machtstrukturen und politische Spielchen zurückgreift, sondern eine neue, begeisterte, positiv urbane und an Innovationen orientierte Politik. Es soll auch ein Befreiungsschlag für die Interesse der Berlinerinnen und Berliner sein.
Oft sind diese Lösungen low-tech und sehr einfach umzusetzen, aber manchmal gerade auch high-tech. Bessere Infrastruktur und Ampelmanagement sowohl für Radfahrer als auch Fußgänger wären nur ein erster Schritt. Radfahrer und Fußgänger müssen physisch besser geschützt und vor allem bedient werden. So bekommen auch Autofahrer mit, dass die Stadt ein gemeinsam genutzter Raum ist, in dem wir uns alle bewegen. Und dass Fahrradfahren etwas Schönes ist. Gute Radinfrastruktur ist Werbung für das Fahrradfahren. Es ist in den Niederlanden gerade auch sicherer, weil Autofahrer auch Radfahrer sind.
Übrigens, der öffentliche Raum gehört uns allen und nicht nur Autobesitzern - Parkingmanagement ist angesagt. Ja, auch Bezahlen für öffentlichen Raum, der besetzt wird, um damit die Infrastruktur und den öffentlichen Raum weiter verbessern zu können.Lösungen für Berlin sollten eher aus der Startup-Szene als aus der Großindustrie kommen.
Gerade Berlin soll dabei nicht am Gängelband der Großindustrie wie Siemens oder Cisco laborieren, sondern eher der tollen eigenen Startup-Szene und Bottom-up-Initiativen in der Stadt die Möglichkeiten geben, Lösungen für die urbanen Mobilitätsdilemmas zu denken, zu prüfen und umzusetzen.
Natürlich ist in Holland nicht alles perfekt. Aber wir arbeiten auf jeden Fall ständig daran, die Städte lebenswerter zu machen. Wir versuchen und experimentieren. Niederländische Städte wie Utrecht zeigen, wie eine lebenswerte Stadt aussehen kann. Da gibt es zum Beispiel jetzt mit 12.500 Stellplätzen das größte Fahrradparkhaus der Welt. Amsterdam und Rotterdam folgen, und tja, die Münchner SPD sieht das als Vorbild für neue Radparkplätze in München.Berlin als Startup betrachten: Ohne Experimente keine Erfolge.
Berlinern sollte es auch keine Angst machen, etwas mehr zu experimentieren, Berlin als Startup zu betrachten. Ohne Experimente keine Erfolge. Zum Beispiel ein paar Ampeln auf weniger befahrenen Kreuzungen ausschalten und die Leute selbst entscheiden zu lassen, ob es sicher ist, die Kreuzung zu überqueren. Man kann manche Straßen zu Einbahnstraßen oder einfach autofrei machen. Wieso soll man nicht auf dem Fahrrad nebeneinander fahren? Wieso soll ich keinen Passagier auf meinem Gepäckträger mitnehmen? Regelungen und Verkehrsmaßnahmen sind da für Menschen und nicht andersrum.
Aber Fahrradinfrastruktur ist nur ein Teil der innovativen Stadt. Es gibt noch viel mehr und schlauere Experimente, mit denen man ausprobieren kann. Urbane Verbesserungen, gerade im Mobilitätsbereich, muss man organisieren. In Amsterdam, San Francisco und Barcelona gibt es Chief Tech and Innovation Officers mit CTOs und vielen Mitarbeitern, und in Amsterdam sogar eine CTO Urban Mobility Gruppe, die quer durch die Verwaltung Innovationen anstoßen soll. Das braucht Berlin! Oder eine/n Fahrradbürgermeister/in. Unabhängige Bicycle Mayors/Ambassadors gibt es in verschiedenen Städten in der Welt, wie in Amsterdam - eine Idee für Berlin? Das müssten die Berliner Politiker doch auch für die Berliner, die das Gute und Schöne tun, nämlich sich bewegen, per Fahrrad oder zu Fuß, befürworten?!Eine Idee aus Amsterdam wäre auch etwas für Berlin: ein/e Fahrradbürgermeister/in.
Auf der Velo Berlin wird am 14. April über ein/e Berliner Fahrradbürgermeister/in und die Zusammenarbeit zwischen Verwaltung, Bürgern und Firmen bei der Umsetzung von Fahrradpolitik diskutiert. Das ist schon gut. Für die SPD, FDP, Linke und CDU organisiere ich gern einen inspirierenden Arbeitsausflug nach Amsterdam und Utrecht. Dann können Berliner Politiker, die es noch nicht verstehen, mal fühlen und anfassen, wie die Luxusprobleme der Zukunft aussehen: So viel Fahrraderfolg, dass es an Fahrradparkplätzen fehlt, und wieder neue Innovationen gefragt sind. Wie gesagt ist auch in Amsterdam und Utrecht nicht immer alles perfekt und mit jeden Erfolg gibt es wieder neue Herausforderungen und Probleme zu lösen. Aber das ist auch gut so.
Berliner, ich schreibe hier auch als Wahlberliner: Ich bin kein Radikaler, ich fahre einen VW und ein Sparta Hollandrad. Berliner, seid zukunftsbereit! Ich möchte in einer Stadt leben, in der ich mir keine Sorgen darüber machen muss, ob es sicher ist, dass meine achtjährige Tochter mit dem Fahrrad zu ihrer Freundin fährt. Wo meine kleine neue in Spandau geborene Berlinerin auch ohne Helm und ohne Angst Fahrrad fahren kann. Ich will neben meinen Kindern auf der Straße nach Grunewald fahren können, ohne von hinten hören zu müssen, dass so etwas nicht erlaubt sei. Oder meine Frau romantisch auf meinem Gepäckträger zum Lietzensee fahren...Es geht bei der Verkehrspolitik um Freiheit, Spaß, Schönheit und Gesundheit.
Sich in der Stadt per Fahrrad zu bewegen, sollte sicher sein und es muss Spaß machen (darüber hat die ehemalige Niederländische Botschafterin Monique van Daalen mal einen tollen Artikel für Tagesspiegel Causa geschrieben. Dann gibt es von alle Seiten weniger Ärger und die Investitionen wird es mehr als wert sein. Weil die Stadt gesünder und schöner wird. Und die Bürgerinnen und Bürger sind freier!
Die Stadt Berlin hat ihre eigene DNA und Geschichte, was sie so einzigartig toll macht. Aber sie sollte auch unbedingt schnell innovativer werden und ihre eigenen Lösungen finden, damit die Stadt nicht ihren Lebenswert im Vergleich zu andere Weltmetropolen verliert. Zusammen lösen die unterschiedlichsten Berliner viele von Berlins Problemen ohne Mühe. Manchmal mit Hilfe von außen und nur wenn wir offen dafür sind und es wollen Kompromissbereit und Fortschritt liebend zusammen etwas bewegend!
Floris Beemster ist Repräsentant für die Regionen Amsterdam und Utrecht und der Niederländischen Kreativwirtschaft in Deutschland, wohnt in Berlin Charlottenburg und beschäftigt sich beruflich mit Urbaner Innovation.