Streit um Bedürftigkeit : Was es zum Leben braucht

Kurz vor der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages zwischen CDU, CSU und SPD sowie der Bildung des Kabinetts Merkel IV hat der künftige Gesundheitsminister Jens Spahn durch Interviewäußerungen für republikweite Aufmerksamkeit gesorgt, die ihm und vor allem dem als „Hartz IV“ bekannten Gesetzespaket in diesem Maß schon lange nicht mehr zuteilgeworden war.
Ein designiertes Regierungsmitglied versuchte, die kritische Debatte über den Aufnahmestopp der Essener Lebensmitteltafel für ausländische „Neukunden“ dadurch abzuwürgen oder in eine andere Richtung zu lenken, dass es die Öffentlichkeit beruhigte, die Grundsicherung für Arbeitsuchende sei „aktive Armutsbekämpfung“, weil „mit großem Aufwand genau bemessen“ und aufgrund ihrer regelmäßigen Anpassung jederzeit bedarfsdeckend: „Hartz IV bedeutet nicht Armut“, erklärte Spahn weiter, „sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut. Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht. Mehr wäre immer besser, aber wir dürfen nicht vergessen, dass andere über ihre Steuern diese Leistungen bezahlen.“ Damit spielte Spahn eine materiell benachteiligte, von staatlichen Transferleistungen lebende Minderheit gegen die (Einkommen-)Steuern zahlende Mehrheit der „Leistungsträger“ aus. Hartz IV ist ein rigides Armutsregime, das zur sozialen Entrechtung und Entsicherung führt.
Hartz IV ist ein rigides Armutsregime, das zur sozialen Entrechtung, Entsicherung und Entwertung jenes Teils der Bevölkerung geführt hat, welcher zumindest in wirtschaftlichen Krisensituationen als unproduktiv und unnütz gilt. Seit dem Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 und Medienberichten über die wachsende Belastung des Bundeshaushalts durch das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld und die Übernahme der Unterkunftskosten werden Transferleistungsempfänger häufiger als faule Müßig- beziehungsweise teure Kostgänger des Steuerstaates empfunden, was sich im Gefolge der globalen Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise noch verstärkte.
Der Regelbedarf von 416 Euro im Monat reicht, sofern das Jobcenter die Wohnung des Hartz-IV-Beziehers für angemessen hält und Miet- wie Heizkosten trägt, zum Leben. Man leidet damit zwar nicht unbedingt Hunger, kann sich allerdings nicht gut kleiden und gesund ernähren, mal ins Kino oder ins Theater gehen sowie in anderen Städten wohnende Verwandte besuchen und ihnen ein Gastgeschenk mitbringen. Überhaupt muss ein Armer in Deutschland auf vieles verzichten, was für die übrigen Gesellschaftsmitglieder zur normalen Lebensführung gehört.
Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010 festgestellt hat, geht es beim Regelsatz der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht bloß darum, das physische Existenzminimum der Betroffenen zu gewährleisten, sie also vor Hunger zu schützen, sondern auch um die Garantie eines „menschenwürdigen“ (oder fachwissenschaftlich ausgedrückt: soziokulturellen) Existenzminimums. Das schließt für die Karlsruher Richter neben der Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben auch die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen ein.In der wohlhabenden Bundesrepublik reicht es nicht, dass Bezieher von Sozialleistungen gerade so über die Runden kommen.
Deshalb nützt es wenig, dass Spahns Fürsprecher in Zeitungskommentaren und Leserbriefen genau vorrechnen, wie man mit den im Regelbedarf eines alleinstehenden Erwachsenen für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke enthaltenen 4,77 Euro täglich gesund leben kann. Selbst wenn dies tatsächlich der Fall wäre, sollte man als Hartz-IV-Empfänger auch mal Freunde zum Essen einladen oder sich mit ihnen zu einem Restaurantbesuch verabreden können. In einem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land wie der Bundesrepublik die Transferleistungen so zu bemessen, dass deren Bezieher nicht darben, genügt folglich nicht.
Durch die Behauptung, dass niemand in Deutschland hungern müsste, wenn es die Lebensmitteltafeln nicht gäbe, hat sich Jens Spahn als Bundesgesundheitsminister selbst disqualifiziert. In dieser Funktion müsste er nämlich das Problem der wachsenden Ernährungsarmut ernst nehmen sowie den Armen, die häufiger krank sind und früher sterben als Wohlhabende, einen besseren Zugang zu den Gesundheitsleistungen verschaffen.Die Bekämpfung von Armut darf nicht karitativen Einrichtungen wie der Tafel überlassen werden.
Armut ist ein viel zu ernstes Problem, um seine Lösung karitativen Einrichtungen und Ehrenamtlern zu überlassen. Tafeln sind nützlich, weil sie Arme mit Lebensmitteln versorgen und es ihnen ermöglichen, Kontakte mit Leidensgenossen zu pflegen, sie erleichtern es aber zugleich den Regierenden, sich ihrer politischen Verantwortung zu entziehen. Kurzum: Tafeln können in gesellschaftlichen Umbruch- und ökonomischen Krisensituationen eine notwendige Ergänzung des Sozialstaates, dürfen aber nie Ersatz für ihn sein.
Nötig wären - gerade bei Spitzenverdienern wie Jens Spahn - mehr Sensibilität gegenüber der Armut, die als Strukturproblem unserer Wirtschafts- beziehungsweise Gesellschaftsordnung erkannt werden muss, mehr Solidarität mit den davon Betroffenen, was die Bereitschaft zum Ausbau des Sozialstaates genauso einschließt wie eine gerechte Steuerpolitik zwecks seiner Finanzierung durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche.