Offene Gesellschaft und ihre Feinde : Der politische Islam ist eine totalitäre Herausforderung

Nach jedem Terroranschlag ergießt sich eine Flut von Leitartikeln über den Leser, denen zufolge wir jetzt erst recht unsere Offenheit schützen müssen. Und dies nicht etwa vor dem islamistisch motivierten Terrorismus, sondern gegen den befürchteten Übereifer bei der staatlichen Verteidigung der Freiheit. Dass die offene Gesellschaft sich selbst verliert, wenn sie Offenheit begrenzt, ist ein Klischee
Denn es sei gerade das strategische Ziel des Terrors, die Freizügigkeit dieser Gesellschaften so lange zu strapazieren, bis diese ihre konstitutive Liberalität preisgebe. Bis sie ihre demokratischen Prinzipien infrage stellen und in ein Sicherheitsregime umschlagen, das ganze Bevölkerungsgruppen als Gefährder betrachte und entsprechend behandele. Doch wo die offene Gesellschaft ihre Offenheit einschränke oder gar aufgebe, um sich zu sichern, beginne sie, sich selbst politisch und moralisch zu verlieren. Bei dieser Denkfigur handelt sich um ein abgestandenes Klischee. Warum sollten jenseits der Extreme Freiheit und Sicherheit überhaupt Gegensätze sein? Vor jeder Flugreise lassen wir uns durchleuchten, ohne dadurch Freiheit zu verlieren
Niemand ist unfreier als ein ermordeter Mensch und Ängste, die mittlerweile jedes öffentliche Event begleiten, sind kaum Ausdruck eines freiheitlichen Lebensgefühls. Vor jeder Flugreise lassen wir uns klaglos durchleuchten, ohne deshalb die offene Gesellschaft in Frage gestellt zu sehen.
Das dialektische Denken ist mit dessen Missbrauch im Marxismus-Leninismus aus der Mode gekommen. Es ist nicht mehr üblich, Gegensätze in ihren Zusammenhängen zu denken und daraus dritte Wege, Kompromisse und neue Feinabstimmungen abzuleiten. Zwar werden längst neue Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, aber dies wird kaum thematisiert. Dies würde nämlich mit dem Eingeständnis vorangegangener Versäumnisse einhergehen. Über das nur klammheimliche Nachbessern wird aber der notwendige Diskurs über den Schutz der offenen Gesellschaft weiter verschleppt. Die Diskurselite kann sich Kritik an den Populisten sparen, denen folgt sie nämlich
Mit der Kritik an „Populisten“ sollte sich die Diskurselite schon deshalb zurückhalten, weil sie meist nach und nach, nur mit Verzögerung, deren Forderungen umsetzt, oft sogar - wie besonders deutlich in den Niederlanden – deren Sprache übernimmt. Dies wäre im Sinne demokratischer Lernprozesse. Aber die Diffamierungen verhindern einen offenen und rechtzeitigen Diskurs über eine neue gemeinsame Strategie.Die Islamisten wollen Freiheit nicht zerstören, sie nutzen sie aus, um Ungläubige anzugreifen
Es ist keineswegs das Hauptziel der Islamisten, die Freiheit der offenen Gesellschaft so lange zu strapazieren, bis diese ihre „konstitutive Liberalität“ aufgibt“. Sie will vielmehr diese Liberalität so lange wie möglich ausnutzen, um die Ungläubigen besiegen und beherrschen zu können. Immer neue Rockkonzerte gegen Terror verkennen den Ernst der Lage
Solange unsere Kanzlerin von „unbegreiflichen Gewalttaten“ redet, befinden wir uns jedenfalls analytisch in keinen guten Händen. Solange die Briten mit neuen Rockkonzerten auf vorangegangene Massaker reagieren, verdrängen auch sie den Ernst der Lage. Die uns immer wieder empfohlene Gelassenheit reicht nicht aus, um die Wehrhaftigkeit der Demokratie zu sichern. Dafür müssten wir den gesamten und damit auch den politischen Islam in den Blick nehmen, gerade um dort nach Freunden, Gegnern und Feinden differenzieren zu können. Nicht alle Nationalisten waren Nazis und nicht alle Sozialisten Stalinisten. Der Kampf gegen die jeweiligen Extremisten wird nur mit den jeweils gemäßigten Kräften gewonnen. Der Islamismus ist nach Hitler und Stalin die nächste totalitäre Herausforderung
Wenn Israel sich nicht mit ganz anderem Ernst des Terrors zu erwehren wüsste, würde es nicht mehr existieren. Europa muss sich die zunehmende Ähnlichkeit seiner Lage mit der Israels eingestehen. Der politische Islam wurde lange zu einer radikalen Form von Religiosität verklärt. Er bedeutet aber eine - nach Hitler und Stalin - dritte totalitäre Herausforderung. Dem Islamischen Staat gelingt es, Rekruten in aller Welt zu mobilisieren. Dies ist angesichts seiner totalitären Versuchung keineswegs „unerklärlich“. Eine Weltanschauung, die selbst den Tod für den Siegeszug ins Paradies zu instrumentalisieren versteht, stellt für alle Marginalisierten eine attraktive Versuchung dar. Asymmetrische Kriege gewinnen diejenigen, welche auf Dauer die meisten Toten in Kauf zu nehmen bereit sind. Die Verweigerung des Diskurses produziert Ängst, statt zu beruhigen
Die Verweigerung eines offenen Diskurses vertreibt keine Ängste, sondern droht diese zu isolieren und zu radikalisieren. Die so genannten Rechtspopulisten sind eine Reaktion auf die Gefährdungen der Grenzenlosigkeit. Der Verdrängung dieser Gefährdungen folgt die Projektion auf die vergleichsweise kleinere Gefahr der Geängstigten. Die unablässigen Attacken gegen „rechts“ suggerieren, dass unsere Freiheit und Sicherheit durch diese stärker gefährdet würde als durch Islamisten.Der Feind steht "rechts", heißt es in alter Ideologietreue, Weltoffenheit wird verabsolutiert
Diese Verdrehung der Prioritäten erfolgt in eigener Sache. Sie soll die alte Ideologie einer verabsolutierten Weltoffenheit im Kampf gegen „rechts“ bewahren helfen. Die ideologische Überhöhung der Offenheit behindert längst die notwendige Unterscheidung, wogegen man offen und wogegen man lieber verschlossen sein sollte, wo differenziert und wo mehr kontrolliert werden müsste. Kontrollierte Offenheit wäre ein dritter Weg
Die von Angela Merkel propagierten „offenen Grenzen“ waren ein Gegenextrem zu Donald Trumps geplanter Aussperrung von Muslimen und seiner Mauer zu Mexiko. Begehbare Wege zwischen Entgrenzung und Abschottung liegen jenseits dieser Extreme: in einer effektiven Kontrolle von Offenheit. An der großen Frage unserer Zeit, wo und in welchen Funktionssystemen Grenzen offen bleiben sollen und wo Schutz und Abgrenzung gefordert sind, kommt keine Partei mehr vorbei. Wer sich dieser Aufgabe wie „Die Grünen“ verweigert, gerät ins Abseits. Wie Karl Popper über die Feinde der offenen Gesellschaft, so müssen wir heute über die Grenzen der offenen Gesellschaft nachdenken.
Die Links-Rechts-Begriffsachse aus dem 19. Jahrhundert hilft zudem nicht mehr zu begreifen. Die Unterscheidung nach „Kosmopoliten und Kommunitarier“ (Wolfgang Merkel) bringt den neuen Großkonflikt weit besser auf den Begriff.Nur auf Abschottung zielen, wird globalen Herausforderungen nicht gerecht
Eine nur nationale oder sogar auf regionale Abschottung abzielende Politik wäre regressiv. Sie würde globalen und europäischen Herausforderungen so wenig gerecht wie universalistische Utopien. Gegenextreme sind keine Lösungen. Niemals darf der Untergang Europas in den Zersplitterungen des Dreißigjährigen Weltkrieges der Nationen von 1914 bis 1945 vergessen werden. Zwischen Kosmopolitismus und Partikularismus müssen dritte Wege gefunden werden.Funktionierende Grenzen sind für ein Staatsfunktionieren unabdingbar
Ein neues Sowohl-Als-auch von Offenheit und Kontrolle erfordert statt der Utopie universeller Gemeinsamkeiten das Austarieren neuer Gegenseitigkeiten, wie nicht zuletzt zwischen offener Gesellschaft und staatlichem Gewaltmonopol. Die „offene Gesellschaft“ hat weltweit längst wieder mehr Feinde als Freunde. Zwischen den Extremen Entgrenzung und Abschottung müssen demokratische Staaten ihr Gewaltmonopol und ihre Kontrollpflichten hüten. Dafür sind funktionsfähige Grenzen unabdingbar, wo immer sie konkret gezogen werden.
Offene Gesellschaft brauchen das Standbein eines wehrhaften demokratischen Staates, um die Spielbeine des grenzüberschreitenden Verbrechens ausgleichen zu können. Ansonsten droht mit der Loyalität für den Staat auch die Loyalität für die offene Gesellschaft verloren zu gehen.
Lesen Sie auch die Antwort auf diesen Text von Markus Löning, ehemaliger Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung: Die Terroristen haben den Kampf längst gewonnen. Die deutsche Gesellschaft ist in Muslime und Nicht-Muslime gespalten.