Die SPD nach der Bundestagswahl : "Es braucht jetzt zuallererst einen vollständigen personellen Neuanfang"

Ein Gespenst geht um in Europa, der Untergang der Sozialdemokratie. Wie sonst ließe sich der Absturz der linken Volksparteien in den vergangenen Jahren beschreiben als mit den leicht abgewandelten Worten von Karl Marx? Die Lage ist ernst, sehr ernst sogar. In Frankreich haben die Sozialisten zuletzt nicht einmal mehr sechs Prozent der Stimmen erreicht. Nicht viel besser sieht es in den Niederlanden aus, in Irland, in Griechenland. In Tschechien und in Spanien dümpeln die einst stolzen Parteien schon länger im Umfragekeller. Und in unserem östlichen Nachbarland Polen ist es bereits zu spät – im polnischen Parlament sitzt heute kein einziger linker Politiker mehr.
Es ist nicht die erste ernste Krise, in der die deutsche Sozialdemokratie steckt. Nur war die Lage noch nie so existenzgefährdend. Heute hat die SPD nur eingeschränkt ein inhaltliches Problem. Keine politische Kraft hat unser Miteinander während der vergangenen zwanzig Jahre mehr geprägt als die Sozialdemokraten. Niemand hat damit mehr dazu beigetragen, dass Deutschland eine weitgehend moderne, gerechtere und auch wieder erfolgreiche Gesellschaft wurde: Mindestlohn, Elterngeld, doppelte Staatsbürgerschaft, sichere Rente, kostenfreie Bildung und so weiter. Die SPD hat Wahlversprechen gebrochen und so das Vertrauen der Bürger verspielt.
Auf der anderen Seite hängen aber auch viele Schattenseiten der Politik in den vergangenen Jahren mit meiner Partei zusammen. Der Vertrauensverlust in der Bevölkerung, die Wahrnehmung von Politikern als abgehobene Elite, das Erstarken der politischen Ränder, der Vorwurf der Verlogenheit. Wenn man in Wahlen geht mit dem Versprechen, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen, sie danach sogar um drei Prozent anhebt, dann ist das Betrug am Wähler. Wenn man vor dem Wahltag sagt, dass man im Verein mit der Kanzlerin eine Autobahnmaut für deutsche Pkw verhindern wird, diese dann aber kommt, dann ist das Betrug am Wähler. Auch die Hartz-Gesetze wurden in breiten Teilen der sozialdemokratischen Wählerschaft als eine Art Verrat wahrgenommen. Die SPD-Führung hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder vergallopiert.
In den vergangenen Monaten bin ich viel in Deutschland herumgekommen. Ich war in München, in Würzburg, in Dessau, in Hamburg, in Fürth, in Jena, in Wittenberge. Überall tauchten die gleichen Fragen auf: Wie glaubwürdig ist die SPD heute? Wofür steht die Partei eigentlich? Und haben die Sozialdemokraten nicht längst den Kontakt zu den normalen Menschen verloren?
Wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem, angefangen beim Personal: Die Spitze der SPD hat sich in den vergangenen Jahren ständig vergaloppiert, wenn heute das eine gefordert wird und nur wenige Stunden später das genaue Gegenteil, so geschehen beim Umgang mit Thilo Sarrazin, bei der Diskussion über den Umgang mit Pegida und den Wählern der AfD. Auch wie Parteichef Kurt Beck am Schwielowsee kalt abserviert wurde, war sicher keine Werbeveranstaltung für die SPD.
Die SPD muss wieder die Sprache der ganz normalen Menschen sprechen – der Malocher und Maurer, der Krankenschwestern und Kneipenwirte, der Systemadministratorinnen, Studenten und der Surflehrer, der Landwirte und Lagerarbeiter, der Start-up-Unternehmerinnen oder aber – warum nicht? – der Stararchitekten, Dandys und Designer. Die SPD muss wieder lernen, eine echte Volkspartei zu sein. Doch der Partei fehlt es derzeit an sozialer und emotionaler Intelligenz.Martin Schulz hat das Bedürfnis nach etwas Neuem, Echtem befriedigt. Die Parteifunktionäre haben das kaputt gemacht.
Dabei könnte die SPD ihre Glaubwürdigkeit schnell zurückgewinnen. Kurz nachdem Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten auserkoren war, schossen die Umfragewerte um zehn Prozent in die Höhe. Viele haben dies später als eine Art Fata Morgana abgetan. Für mich ist jedoch klar, das war kein künstlicher Hype. Es gibt tatsächlich ein tiefes Bedürfnis nach etwas Neuem, Echtem, Kantigem, Handfestem. Martin Schulz hat das anfangs verkörpert. Die Zustimmungswerte waren echt. Leider geriet er dann in das Räderwerk unserer Partei, genauer: in das Räderwerk der Funktionäre. Sie redeten ihm ein, dass er keine Kanten haben dürfe. Sie schrieben seine Texte und Reden um und machten sie unkenntlich. Sie gaben ihn bewusst oder unbewusst der Lächerlichkeit preis, indem sie ihm Satzbausteine aufdrängten, die völlig unverständlich waren. Er durfte nicht einmal von den Vereinigten Staaten von Europa reden, sondern von den Vereinigten Demokratien von Europa.
Ich finde es schäbig, wie in weiten Teilen des Wahlkampfes mit Martin Schulz umgegangen worden ist. Martin Schulz hat gerackert, er hat geschwitzt, er hat Bierzelte unterhalten, tausende Hände geschüttelt. Nie hat er sich selbst gestattet, aufzugeben. Nur wurde er von seinem Umfeld, von seinen vermeintlichen Helfern, von unserer Parteispitze leider allzu oft im Stich gelassen. Gerade von Personen, die zuvor selbst den schleichenden Niedergang der SPD zu verantworten hatten. Von SPD-Wirtschaftsministern, die bedenkenlos weiter deutsche Waffen in die Welt verkauften. Von hochrangigen Funktionären und vermeintlichen Experten, die einen guten Kandidaten verdrehten und verzwergten. Von Ministerpräsidenten, die dem Kanzlerkandidaten keine Bühne bieten wollten, nur weil sie eigene Wahlinteressen verfolgten, und dennoch kläglich scheiterten. Von den Werbern und Beratern der Partei, die die SPD in den vergangenen Jahren zu einem völlig unkenntlichen Gebilde entwickelt haben.SPD und Union unterscheiden sich grundsätzlich - das SPD-Führungspersonal übertüncht das aber.
SPD und Union seien eins, heißt es. Dabei liegen zwischen SPD und Union Welten! Nur übertüncht das politische Führungspersonal diese vollkommen. Leider wird auch die SPD heute in weiten Teilen von Karrieristen und Apparatschiks geprägt. Wenn inzwischen weite Teile der Bevölkerung den Eindruck haben, dass die beiden großen Volksparteien vollkommen gleich sind und Politiker alle nur das eine wollen, nämlich Geld, Macht und Einfluss, dann ist das verheerend für die Demokratie. Diese Wahrnehmung zeigt auch, dass es für die SPD einem Himmelfahrtskommando gleichkäme, erneut eine große Koalition einzugehen.Die SPD braucht jetzt zuallererst einen vollständigen personellen Neuanfang.
Wenn die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes meinen, die regierenden Politiker würden sich für ihre wahren Sorgen überhaupt nicht mehr interessieren, ja, sie hätten sogar den Kontakt zu den ganz normalen Menschen verloren, dann haben wir ein ernsthaftes Problem. Vor allem dadurch lässt sich der rasante Aufstieg der AfD erklären, als Konsequenz des völligen ordnungspolitischen Versagens beider Volksparteien, in erster Linie aber der SPD.
Es braucht jetzt zuallererst einen vollständigen personellen Neuanfang. Denn dass sie den Ernst der Lage nicht verstanden haben, hat die alte Führungsmannschaft jetzt über Jahre gezeigt. Der beispiellose Niedergang in den vergangenen zwölf Jahren – bei dem die Partei gut ein Drittel ihrer Wähler verloren hat – sollte als Alarmsignal reichen.
Namen sind Nachrichten, heißt es. Und Köpfe sind Inhalte. Ganz wichtig ist für eine personelle Neuaufstellung, dass die neue Sozialdemokratische Partei Deutschlands wieder Spaß macht, dass sie Hoffnungen weckt, dass sie Ängste abbaut, zum Nachdenken bringt, auch einmal zur Kritik anregt, zur Diskussion.Die SPD hat im Wahlkampf das Thema Sicherheit kaum angesprochen - das war ein Fehler.
Unabdingbar ist dafür, dass die Partei endlich wieder die Menschen in unserem Land ernst nimmt und auf ihre Bedürfnisse ehrlich eingeht. Sicherheit war und ist das ganz zentrale Thema, das die Deutschen umtreibt. Soziale Sicherheit, Sicherheit vor Kriminalität, die Sicherheit unserer Grenzen, Sicherheit für unsere Freiheit. Nur hat meine SPD das Thema Sicherheit in den vergangenen Monaten kaum angesprochen. Die Verengung des Wahlkampfes auf den Begriff der Gerechtigkeit ging an den Bedürfnissen und Hoffnungen einer Mehrheit in der Bevölkerung klar vorbei.
Gepaart mit den konkreten Ängsten der Bevölkerung geht eine zweite, weit weniger konkrete Angst einher: die Angst vor einer „kulturellen Überfremdung“. Nur ein offensiver Umgang mit diesen Ängsten ist ehrliche Politik. Deutschland war schon immer ein Einwanderungsland. Das ist leider etwas in Vergessenheit geraten. Daher müssen wir unsere nationale Erzählung neu schreiben. Oder sie überhaupt einmal schreiben. Wir brauchen ein modernes, tolerantes, ein buntes, vielfältiges und ehrliches Verständnis für unser Land, für seine Gesellschaft, ihren Ursprung und unsere gemeinsame Geschichte. Hierfür wird die SPD gebraucht. Nur duckt sie sich momentan noch weg.
Gleichzeitig müssen wir versuchen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Es ist völlig irrsinnig, wenn wir über Millionen von Flüchtlingen und zig Kriege in der Welt lamentieren und gleichzeitig liefern wir in diese Regionen Waffen. Wir brauchen keine deutschen Panzerfabriken in Algerien, keine deutsche Rüstungs-Hightech für Saudi-Arabien . Wir brauchen Entwässerungsanlagen, Solarstrom, faire Handelsabkommen.
Wenn überall Lehrerinnen und Lehrer fehlen, darf dies nicht toleriert werden. Daneben sind in den meisten Großstädten Deutschlands die Mieten inzwischen so hoch, dass sich Ottonormalbürger ein Leben im Zentrum nicht mehr leisten kann. Was spricht eigentlich dagegen, wenn eine Immobilie abgezahlt ist, die Rendite zu deckeln? Und was spricht gegen gedeckelte Managergehälter?
Wir müssen für faire Löhne kämpfen, für eine gerechte Rente, für den Rückkauf der wichtigsten städtischen Versorgerunternehmen wie Strom und Wasser, oder auch eine Ausweitung des staatlichen sozialen Wohnungsbaus.
Michelle Müntefering hat während des Wahlkampfes eine ergreifende Geschichte erzählt. Sie berichtete von ihrem Eintrittserlebnis in die SPD, als sie einen alten Genossen in NRW fragte, wie sie eine gute Sozialdemokratin werde. Und der Mann geantwortet hatte: „Die Menschen sind nicht gleich, aber sie sind gleich viel wert.“ In dieser kleinen Anekdote steckt sehr viel Wahrheit. Wir dürfen uns dieser nicht weiter verschließen.
Nur wenn wir es schaffen, endlich wieder Politik für alle Menschen in unserer Gesellschaft zu machen, wenn wir es schaffen, alle Ängste, Sorgen, aber auch Hoffnungen der Menschen anzusprechen, wenn wir es schaffen, eine breite Dynamik loszutreten – die Alte und Junge, Frauen und Männer, Einheimische und Zugewanderte, Arme, aber auch eher Wohlhabende, Angestellte und Unternehmer gleichermaßen anspricht –, nur wenn wir es also schaffen, eine große Vision für unser Heimatland Deutschland zu definieren – nur dann werden wir in Zukunft Erfolg haben. Es geht um den Fortbestand einer Volkspartei. Der ältesten, stolzesten und erfolgreichsten Partei Deutschlands.
Dass das Gespenst des Untergangs der Sozialdemokratie nur ein vorübergehendes Phänomen bleiben könnte, haben – zum Glück – die vergangenen Jahre ebenso gezeigt. Daraus sollte die SPD Mut schöpfen. In Italien hat Mario Renzi vorgemacht, dass er aus dem Stegreif die Stimmen für seine Partei nahezu verdoppeln konnte. Ähnlich Labour in England, wo Jeremy Corbyn bewiesen hat, dass die Totenglöckchen umsonst geläutet worden sind. Auch die portugiesischen Genossen haben sich wieder aufgerappelt. Ebenso spektakulär war hierzulande die Aufholjagd von Malu Dreyer bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz. Olaf Scholz hatte das zuvor bereits in Hamburg bewiesen. Ergebnisse zwischen 35 und 40 Prozent sind auch für die deutschen Sozialdemokraten nicht ausgeschlossen. Aber dafür braucht es einen klaren Willen, Selbstbewusstsein und Glaubwürdigkeit. Und es braucht Mut!