Familiennachzug und Integration : Warum eine erfolgreiche Integrationspolitik Familiennachzug braucht

Über eine Frage besteht in allen Parteien und bei den Beitragenden zu dieser Debatte weitgehend Einigkeit: Die Einheit der Familie muss gewahrt werden. Ob dies auch für geflüchtete Familien zutrifft, von denen Mitglieder einen subsidiären Schutzstatus in Deutschland besitzen, Angehörige aber weiter in unsicheren Situationen leben, das ist offenbar umstritten. Das Prinzip der Familieneinheit unterliegt politischer Abwägung. Steht es anderen politischen Zielen entgegen, so mag hier eine Einschränkung gerechtfertigt sein. Eine Migrationspolitik, die die Anzahl neuer Zuzüge verringern will, scheint hier leicht an der Stellschraube drehen zu können. Vermeintlich hunderttausende Zuzüge, so klingt es durch, könnten mit der weiteren Aussetzung des Familiennachzugs vermieden werden. Tatsächlich wäre die Zahl der Familiennachzügler aufgrund gesetzlicher Voraussetzungen weit niedriger. Unter der Aussetzung leiden dabei nicht nur jene, denen die Einreise verwehrt wird, sondern auch jene in Deutschland, denen ein Schutzstatus zuerkannt wurde – aufgrund unmenschlicher Umstände, in denen die Angehörigen vermutlich noch leben. Was dies für die Integrationschancen und die psychische Verfasstheit der hier Lebenden bedeutet, liegt auf der Hand. Es scheint also eine durchaus harsche Politik, die dem ethischen Anspruch des Schutzes widerspricht. Vielmehr noch ist es aber auch eine äußerst schlechte Migrationspolitik. Die Gemeinden könnten den Familiennachzug bewältigen – die Situation ist nicht vergleichbar mit 2015.
Die meisten Gemeinden waren 2015 mit der Aufnahme neu ankommender Asylsuchender überfordert. Bei allen großartigen Leistungen, mit denen Behörden und Zivilgesellschaft die Herausforderungen gemeistert haben, wäre eine Wiederholung der damaligen Situation nicht wünschenswert. Die Gefahr ist in dem hier diskutierten Szenario jedoch nicht gegeben. Die Notsituationen, die 2015 bundesweit entstanden, waren ein Resultat fehlender Infrastruktur, teils unzureichender Vorbereitung und weniger die hohen Ankunftszahlen als deren rasanter und unerwarteter Anstieg. Die Umstände sind heute, zumal beim Familiennachzug, gänzlich anders. Die Infrastruktur zur Aufnahme ist inzwischen fast überall vorhanden, teils stehen neue Aufnahmezentren leer. Da ein Familiennachzug geplant und zeitlich gestaffelt durchgeführt werden könnte, könnten sich zuständige Stellen auf die Ankunft vorbereiten. Auch Millionen von Ehrenamtlichen sind noch engagiert in der Flüchtlingshilfe und würden aushelfen. Angesichts dessen, dass die Ankommenden alle bereits Angehörige in Deutschland haben, wären also erste Kontakte und in der Regel gesetzlich vorgeschrieben, auch Wohnraum vorhanden. Sollten die hiesigen Geflüchteten in Gemeinden ohne weitere Aufnahmekapazitäten leben, wäre hier ein Umzug in eine Stadt möglich, in der die ganze Familie Aufnahme finden könnte. Die Logistik wäre gerade in der heutigen Situation kein Aufnahmehindernis. Ein größeres Aufnahmerisiko könnte eine Stimmung gegen Flüchtlinge sein, die seit dem Sommer 2015 lauter geworden ist. Hier läge es gerade an PolitikerInnen, einer solche Stimmung nicht Vorschub zu leisten, sondern daran zu erinnern, dass Werte wie die Familieneinheit auch für Flüchtlinge umgesetzt werden sollten. Dass ausgerechnet Kriegsflüchtlinge Ihre Familien nicht nachholen dürfen, ist nicht nachvollziehbar.
Die Aussetzung des Familiennachzugs betrifft jene, die nicht aufgrund von individueller Verfolgung einen Flüchtlingsstatus erhalten haben, sondern die, die vor Krieg oder drohenden Menschrechtsverletzungen geflohen sind und subsidiären Schutz erhalten haben. Zunehmend betrifft dies auch Syrer und andere, die noch vor ein paar Jahren vorwiegend Flüchtlingsstatus erhielten. Im Prinzip unterscheiden sich die beiden Schutztitel darin, dass der Flüchtlingsstatus langfristig, der subsidiäre Schutz aber vorübergehend angelegt ist. Faktisch unterscheiden sich beide aber kaum in ihrer rechtlichen Ausgestaltung – mit Ausnahme des Familiennachzugs. Weshalb nun jene, die vor Krieg geflohen sind, kein Anrecht auf Familieneinheit haben sollen, scheint äußerst beliebig. Unter der Annahme, dass die Trennung nur vorübergehend sei, scheint dies vertretbar zu sein. Doch eine sichere Rückkehr nach Syrien ist weiterhin nicht absehbar und eine Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs führt das Argument der vorübergehenden Trennung von Familienangehörigen ad absurdum. Die erfolgreiche Integration Geflüchteter ist auch wichtig für deren Rückkehr.
Selbst, wenn wir davon ausgehen, dass Flüchtlinge eines Tages in ihr Herkunftsland zurückkehren, wie es viele vorhaben, so sind Familiennachzug und Integration auch für eine erfolgreiche Rückkehr wichtig. Rückkehrer sollten zum Wiederaufbau und zum demokratischen Wandel in post-Konfliktgesellschaften beitragen. Wenn aber Familien durch jahrelange Trennungen zerrüttet sind, fehlt hier eine notwendige persönliche Stabilität, aus der ein Engagement für die Herkunftsgesellschaft entspringen könnte. Auch eine erfolgreiche Integration in Deutschland, die mit Sorge um Angehörige in Konflikt- oder Transitregionen kaum möglich ist, wäre für eine Rückkehr wichtig, um beispielsweise erlernte Fähigkeiten und demokratische Erfahrungen zurück bringen zu können. Sollte es aber aus welchen Gründen auch immer langfristig nicht zu einer Rückkehr kommen, dann ist die Familieneinheit für eine erfolgreiche Integration in Deutschland ohnehin unabdinglich. Der Familiennachzug verhindert, dass Menschen die lebensgefährliche Flucht auf sich nehmen.
Mit der fortgesetzten Aussetzung des Familiennachzugs wird der legale Zugang zu Deutschland für potentielle Migrantinnen und Migranten geschlossen gehalten, von denen wir wissen, dass sie einen Status erhalten werden, die Kontakte in Deutschland haben und Schutzstatus benötigen. Damit widerspricht die Bundesregierung ganz fundamental der Begründung ihrer eigenen Grenz- und Migrationspolitik. Die Einrichtung von legalen Zugängen wird in der Regel als Alternative zu Menschenschmuggel und gefährlichen Mittelmeerüberquerungen propagiert. In Ermanglung solcher Zugänge werden Angehörige von Geflüchteten in Deutschland gezwungen, irregulär einzureisen und die damit einhergehenden Gefahren auf sich zu nehmen, wollen sie die Familien wieder vereinen. Bisher scheint sich dies auf die Mittelmeerüberquerungen noch nicht niedergeschlagen zu haben: Der Anteil von knapp 60 Prozent Frauen und Kinder der in Griechenland Landenden ist seit 2015 konstant. Sollte aber eine Familienzusammenführung mit der Verlängerung der Aussetzung auch langfristig ausgeschlossen werden, so könnten sich insbesondere Frauen und Kinder wieder auf den irregulären und gefährlichen Weg nach Europa machen – mit dem Risiko zusätzlicher Tode im Mittelmeer im nächsten Jahr.