Europa als Einheit : Instinkt, Worte und Strategie - Europa muss seine Werte aktiver verteidigen

Europa müsse sein Schicksal ein Stück weit in die eigene Hand nehmen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel dies vor gut einem Jahr in einem Bierzelt in München angesichts der Unberechenbarkeit des neuen amerikanischen Präsidenten sagte, hatte sie den richtigen Instinkt. Noch vor dem Handelskrieg und dem US-Rückzug aus dem Iran-Abkommen war ihr klar: Europa muss seine Werte und Interessen im Blick haben und durch eigenständiges Handeln seine Souveränität erhalten. Was das genau bedeuten könnte, hat ihr Außenminister Heiko Maas in dieser Woche in einem vielversprechenden Beitrag im Handelsblatt skizziert. Er sprach von einer „balancierten Partnerschaft“ und nannte konkret unter anderem den Ausbau der gemeinsamen EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik, mehr europäische Unabhängigkeit im internationalen Zahlungsverkehr und den Aufbau eines europäischen Währungsfonds.
Die Frage der Beziehungen zu Amerika ist ein neuralgischer Punkt für Deutschland und seine Außenpolitik. Ich selbst bin halb deutsch, halb jüdisch und überzeugter Transatlantiker. Aber wir müssen der Realität ins Auge schauen: Unser Verhältnis mit Washington ist nicht mehr dasselbe wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Der Präsident in Washington sieht in der EU gar einen Feind. Unsere Verzagtheit gegenüber Trump führt dazu, dass die Welt zu einem gefährlicheren Ort wird.
Deutschland braucht eine Debatte darüber, wie es die Errungenschaften der europäischen und der liberalen Weltordnung aktiver verteidigen kann. Donald Trumps Treffen mit Diktatoren und Autokraten wie Kim Jong Un, Wladimir Putin und Hassan Rohani zeigen, dass man ihm gegenüber nur aus einer Position der Stärke Erfolg hat. Unsere Verzagtheit führt dazu, dass die Welt zu einem gefährlicheren Ort wird. Sei es in der Iranpolitik, in unseren Beziehungen mit der Türkei, beim Nahostkonflikt und im Mittleren Osten oder in der Klimapolitik: Amerika agiert immer seltener in unserem Interesse. Die EU muss eine Infrastruktur europäischer Autonomie aufbauen: politisch, wirtschaftlich, aber auch militärisch.
Deshalb sollte die Bundesregierung die transatlantischen Beziehungen ausgewogener gestalten und mit ihren europäischen Partnern die Infrastruktur europäischer Autonomie ausbauen. Auf wirtschaftlicher Ebene müssen wir, wie Maas gefordert hat, ein europäisches Zahlungssystem aufbauen, das es erlaubt, unabhängiger vom scheinbar allmächtigen Dollar zu wirtschaften. Genau diese Idee wies Merkel leider umgehend zurück. Auf militärischer Ebene geht es darum, unsere Ressourcen gezielt und strategisch in diejenigen militärischen Fähigkeiten zu investieren, die uns unabhängiger von den Vereinigten Staaten machen und Europa schützen. Etwa in der Geheimdienstarbeit, in Sachen Luftmobilität und bei militärischen Steuerungs- und Kontrollstrukturen. Auch bei der Zielerfassung und der Aufklärung gibt es Potenzial für mehr europäische Unabhängigkeit von Amerika. Auf politischer Ebene brauchen wir die von Maas vorgeschlagene Allianz der Multilateralisten, um den Schaden der Großmachtpolitik an unseren Werten und für unsere Wirtschaft zu begrenzen. Wenn sich die „Mittelmächte“ des 21. Jahrhunderts, vor allem die G6 sowie Indien und Brasilien, zusammenschließen, können wir wichtige Institutionen wie die WTO und die Vereinten Nationen vor Angriffen der Großmächte schützen. Wir müssen die Bereiche identifizieren, in denen die USA auf uns angewiesen sind.
Für Donald Trump gibt es keine Freunde, nur andere Akteure, mit denen man Deals zur Maximierung des eigenen Interesses machen kann. In einer solchen transaktionellen Beziehung muss sich Europa seiner Hebel gegenüber Washington bewusst werden. Denn es ist nicht so, dass der zweitgrößte Markt der Welt, der noch größer ist als der amerikanische, vollkommen machtlos wäre. Wir sollten deshalb diejenigen Bereiche identifizieren, in denen die Vereinigten Staaten auf uns angewiesen sind oder gar Bitten an uns formulieren. Es ist etwa legitim, infrage zu stellen, dass unsere Soldaten Amerika weiter in Afghanistan unterstützen, wenn die amerikanische Politik nicht einmal im Ansatz auf europäische Interessen im Nachbarland Iran eingeht. Konditionalität ist nicht nur gegenüber Griechenland oder der Türkei wichtig: Nur wenn man unsere Interessen in Washington respektiert, helfen wir. Um an Einfluss zu gewinnen, muss Europa mit einem neuen Bilateralismus eine bessere Einheit schaffen.
Für Europa gilt bei alledem: ohne Einheit kein Einfluss. Es braucht einen neuen komplexen Bilateralismus. Kerneuropa allein genügt nicht. Nur wenn etwa Italien, Ungarn, Polen und Griechenland auch das Gefühl haben, dass ihre Interessen ernst genommen werden, wenn auch kleinere Staaten von einem geschlossenen Auftreten profitieren, können wir uns effektiv schützen.
Es ist gefährlich, wenn sich die deutsche Debatte mit der Frage aufhält, ob das Bundeskanzleramt mit dem Außenminister einverstanden ist. Vielmehr muss die deutsche Bundesregierung zeigen, welche konkreten und strategisch durchdachten Maßnahmen sie ihrer Rhetorik folgen lässt. Angela Merkel könnte Europa so dazu bewegen, sein Schicksal tatsächlich in die eigenen Hände zu nehmen, und die transatlantische Partnerschaft langfristig vor dem Bruch bewahren.