Flüchtlingspolitik der Bundesregierung : Mythos Rechtsbruch

Im März veröffentlichten 34 Unterzeichner, darunter die DDR-Bürgerrechtlerin und Politikerin Vera Lengsfeld, der Schriftsteller Uwe Tellkamp und der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, die „Erklärung 2018“, einen Appell zur Flüchtlingspolitik. Die Unterzeichner präsentieren sich als intellektuelle Opposition. In knappen 33 Worten versuchen sie, das politische System zu delegitimieren, indem sie auf ein scheinbar neutrales Argument verweisen: das Recht. Die „illegale Masseneinwanderung“ soll gestoppt und die „rechtsstaatliche Ordnung“ an den Grenzen wiederhergestellt werden. Dies ist geschickt, weil Recht und Verfassung über dem politischen Tagesgeschäft zu stehen scheinen. Wer sich auf das Recht beruft, muss keine Sachargumente vorbringen. Gestützt wird die quasi-wissenschaftliche Argumentation, indem man eine unabhängige Kommission fordert und viele Bildungsbürger mit akademischen Titeln unterschreiben lässt.
Doch die „Erklärung 2018“ macht es sich zu einfach, denn die pauschale Behauptung vom fortwährenden Rechtsbruch überzeugt nicht. Im Kern beruht die These vom Rechtsbruch auf einem Missverständnis des deutschen Asylgrundrechts, dem eine einfache Antwort unterstellt wird, obwohl die deutsche Drittstaatsregelung seit dem Inkrafttreten des Dubliner Übereinkommens hinter dessen Regelungen zurücktritt. Diesen Vorrang des Unionsrechts stellte das Bundesverfassungsgericht schon 1996 fest, und er gilt noch eindeutiger für die heutige Dublin-III-Verordnung. Es mag schwer zu vermitteln sein, aber die rechtliche Antwort ist eindeutig: Das Grundgesetz beherrscht den öffentlichen Diskurs, ist für die Frage der Grenzschließung in der Rechtspraxis aber weitgehend irrelevant. Es gelten die Dublin-Regeln. Die These vom Rechtsbruch beruht auf einem Missverständnis des deutschen Asylgrundrechts.
Deren Inhalt stellte der Europäische Gerichtshof im vergangenen Sommer unmissverständlich fest. Zwar sind in den meisten Fällen für deutsche Asylanträge andere Staaten zuständig, allerdings nur nach Maßgabe eines komplizierten Überstellungsverfahrens. Die deutschen Behörden dürften viele Asylbewerber zurückschicken, allerdings nicht zu unseren direkten Nachbarn wie Österreich, sondern in die Außengrenzländer Italien, Griechenland oder Kroatien. Die Crux ist nun, dass die Rückführung nur zeitlich begrenzt möglich ist. In Artikel 29 der Dublin-III-Verordnung steht, dass Deutschland ein eigenes Asylverfahren durchführen muss, wenn die Überstellung binnen sechs Monaten nicht gelingt. Hiernach geht die Zuständigkeit über, wenn die Überstellung scheitert, was in der Praxis leider viel zu häufig passiert. Ich hätte mir gewünscht, dass der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio sich mit diesen Rechtsfragen beschäftigt, allerdings schweigt sein Gutachten hierzu weitgehend.
Wegen des Vorrangs der EU-Regeln kommt es auch nicht darauf an, ob irgendeine Ministeranordnung besteht oder nicht. Dies bestätigte mittelbar inzwischen auch das deutsche Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Es mag sein, dass diese Rechtslage selbst Experten im Winter 2015/16 nicht eindeutig klar war, weshalb auch verschiedene Äußerungen der Bundesregierung aus heutiger Sicht missverständlich formuliert sind. Aber dennoch steht für mich das Ergebnis fest, das ich auf dem „Verfassungsblog“ näher begründet habe: Die Behauptung vom fortwährenden Rechtsbruch ist ein Mythos. Die Behauptung vom fortwährenden Rechtsbruch ist ein Mythos.
Das klingt kompliziert - und das ist durchaus typisch für die Migrationspolitik. Mit ihrem Verweis auf die Staatsgrenze suggeriert die „Erklärung 2018“ eine einfache Lösung, die es rechtlich und tatsächlich nicht gibt. Das zeigt ein kleines Gedankenspiel: Was passierte, wenn Deutschland die Dublin-Regeln abschüttelte oder gleich ganz aus der EU austräte? Wäre der voll souveräne Nationalstaat handlungsfähiger? Mitnichten, denn man muss kein Migrationsforscher sein, um zu erkennen, dass Staaten grenzüberschreitende Personenwanderungen immer nur begrenzt steuern können, weil diese von Faktoren abhängen, die sie nur teilweise kontrollieren. Eine kluge Politik wird daher mehrdimensional vorgehen: von der Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten bis hin zu innenpolitischen Maßnahmen, etwa bei der Abschiebung. Nationale Alleingänge versprechen selten nachhaltigen Erfolg.Nationale Alleingänge versprechen selten nachhaltigen Erfolg.
Diesen Weg verfolgt auch die Bundesregierung. Tatsächlich sind die europäischen Länder keineswegs so handlungsunfähig, wie es der verkürzte Blick auf die Schengen-Binnengrenzen suggerieren mag. Sowohl die EU-Türkei-Kooperation als auch die Mittelmeerpolitik zeigen, dass man die Fluchtmigration faktisch steuern kann - und rechtlich auch steuern darf. Im Detail kann und muss man über vieles diskutieren, etwa ob die Türkei die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat erfüllt. Aber das ändert nichts am Grundsatz, dass Staaten handeln dürfen und das auch tun. Ebenso falsch ist es im Übrigen, die Asylpolitik moralisch zu verklären, indem man behauptet, dass aus dem Asylgrundrecht oder der Genfer Flüchtlingskonvention folge, dass jeder unbehelligt nach Deutschland reisen können müsse.
Damit sind wir bei einem Kernproblem angelangt: Die Migrationspolitik wird derzeit häufig schwarz-weiß präsentiert: Grenzen sind entweder offen oder geschlossen. So reagierten auch jene Kulturschaffenden, die auf die „Erklärung 2018“ antworteten, auf die Grenzschließungsfantasie mit einem rechtlich-moralischen Universalismus. Sie solidarisierten sich mit „allen Menschen“, auch denen, die vor Armut fliehen, weil die Menschenrechte „an keiner Grenze dieser Welt enden“. Das ist gut gemeint, überspielt aber gleichfalls die staatlichen Handlungsoptionen, weil Flüchtlinge sich den Zielstaat nicht frei aussuchen dürfen und wirtschaftliche Motive kein Asylgrund sind. Eine binäre Alternative gibt Orientierung, verlangt jedoch zugleich ein Bekenntnis. Man muss sich zwischen offenen und geschlossenen Grenzen entscheiden. Es gibt kein Dazwischen und damit auch keinen Raum für eine gestaltende Politik, die die vielfältigen Interessen zu einem Ausgleich zu bringen sucht.Die Migrationspolitik wird in der aktuellen Debatte häufig schwarz-weiß präsentiert.
Es ist damit zugleich gesagt, dass die Antwort eines Juristen auf die „Erklärung 2018“ unvollständig bleiben muss. Es ist nur der erste Schritt, den Mythos vom Rechtsbruch zu widerlegen. Wenn die Migrationspolitik politisch gestaltet werden kann und darf, gibt es einen Raum für politischen Streit und Kompromisse, die den Bürgern keine Entscheidung zwischen offenen oder geschlossenen Grenzen abverlangen. Dieser Streit wird in Bundestag, Öffentlichkeit und Medien seit zwei Jahren geführt. Hieran sollten sich die Unterzeichner der „Erklärung 2018“ mit Sachargumenten beteiligen, anstatt zu versuchen, das gesamte politische System mit der falschen Behauptung vom permanenten Verfassungsbruch zu delegitimieren.