Brexit oder Chaos : No-Deal als verheerende Option

Mit dem Sondergipfel des Europäischen Rats, der am 20. September in Salzburg beginnt, wird die letzte und entscheidende Phase der Brexit-Verhandlungen eingeläutet. Nur noch ein halbes Jahr trennt uns vom 29. März 2019, dem Tag, an dem das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union ausscheiden wird. Da sowohl das britische, als auch das europäische Parlament das Trennungsabkommen ratifizieren müssen, ist geplant, die Verhandlungen bis spätestens Ende November abzuschließen. Doch bislang reden die britische Regierung und die EU27 derartig aneinander vorbei, dass ein abrupter Austritt der Briten aus der EU ohne Abkommen nicht länger ausgeschlossen werden kann. Es ist an der Zeit, die immer lauter werdenden Warnungen vor einem solchen „No Deal-Brexit“ ernst zu nehmen. No-Deal ist auf der Insel schon seit Längerem eine Option.
Wer die britische Debatte seit dem EU-Referendum 2016 verfolgt hat, weiß, dass ein Brexit ohne Deal dort schon sehr viel länger in Betracht gezogen wird, als dies auf dem Kontinent der Fall ist. Die Diskussion hat allerdings eine neue Qualität erreicht, seitdem die britische Regierung im Juli 2018 ihren Chequers-Plan für das künftige Verhältnis zwischen Vereinigtem Königreich und EU vorgelegt hat. Auf einem Besuch in Berlin stellte Außenminister Jeremy Hunt die EU27 vor die Wahl, den in Chequers erarbeiteten Vorschlägen zu entsprechen, oder die Verantwortung für das Scheitern der Verhandlungen zu übernehmen. Im August veröffentlichte das Brexit-Ministerium detaillierte Notfallpläne für eine No-Deal-Situation. Premierministerin May legte nach, indem sie lapidar behauptete, ein chaotischer Brexit sei „auch nicht das Ende der Welt“. Der unkontrollierte Austritt wird der Wirtschaft schaden und der politischen Glaubwürdigkeit.
Selbst gemessen an der sonstigen Qualität der britischen Brexit-Diskussion, die sich durch eine bemerkenswerte Unkenntnis der EU und ihrer Funktionsweisen auszeichnet, ist diese Aussage Mays eine spektakuläre Untertreibung. Ein No-Deal-Brexit hätte zur Folge, dass große Teile des Regelwerks zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in der Nacht vom 29. zum 30. März 2019 plötzlich wegbrächen. Der Luftverkehr zwischen EU und Großbritannien wäre unterbrochen, eine ausreichende Lebensmittel- und Medikamentenzufuhr für den britischen Markt nicht länger gewährleistet. Im Vereinigten Königreich lebende EU-Bürger fänden sich, genau wie Briten, die in der EU wohnen und arbeiten, auf einmal in der Illegalität wieder. In der EU abgeschlossene Verträge könnten nicht länger in britischen Gerichten geltend gemacht werden. Das britische Pfund würde aller Voraussicht nach einbrechen, und der Handel mit dem Kontinent wäre durch zeitraubende Grenzkontrollen und einen erhöhten Verwaltungsaufwand deutlich beeinträchtigt. Längerfristig rechnet die britische Regierung mit einem Rückgang des Bruttoinlandprodukts um acht Prozent in den nächsten 15 Jahren. Noch nicht mit einkalkuliert in all diese praktischen Überlegungen ist der massive politische Schaden und Vertrauensverlust, den ein No Deal-Brexit für das britisch-europäische Verhältnis mit sich ziehen würde. Die Nordirland-Frage ist weiterhin völlig unklar.
Natürlich liegt der Gedanke nahe, in den Vorbereitungen für einen chaotischen Brexit eine Verhandlungstaktik der britischen Regierung zu sehen. Nicht nur unter den extremen Euroskeptikern in Großbritannien ist der Gedanke verbreitet, dass es sich bei den Austrittsverhandlungen um eine Machtprobe mit der EU handelt, die gewinnen wird, wer Stärke zeigt und den längeren Atem behält. Noch stehen einer Einigung zwei zentrale Streitpunkte im Weg: die künftige Beteiligung des Vereinigten Königreichs am Gemeinsamen Markt der EU, und Nordirland. Zu den wichtigsten Grundprinzipien des Gemeinsamen Marktes gehört die Unteilbarkeit der vier Freiheiten, d.h. der Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Der Chequers-Plan sieht aber lediglich eine Beteiligung britischer Waren am Gemeinsamen Markt vor. Ein noch größeres Problem stellt die Grenze zwischen Nordirland und Irland dar, die mit dem Brexit zur Außengrenze der EU wird. Zwar sind sich die britische Regierung und die EU27 einig, dass die Grenze gemäß des Karfeitagsabkommens* von 1998 offen verbleiben muss, um den Friedensprozess in Nordirland nicht zu gefährden. Aus Sicht der EU27 ist dies allerdings nur möglich, wenn Nordirland Teil der europäischen Zollunion bleibt, auch wenn Großbritannien sie – wie angekündigt – verlässt. Die britische Regierung betrachtet diese Lösung aber als inakzeptable Aufteilung des Vereinigten Königreichs in zwei unterschiedliche Systeme. Die No-Deal-Diskussion richtet sich auch an die britischen Parlamentarier.
Selbst wenn EU27 und die britische Regierung ihre Differenzen in diesen Grundsatzfragen überwinden, sind damit noch lange nicht alle Probleme gelöst. Mays Instrumentalisierung der No Deal-Diskussion richtet sich nicht nur an die EU27, sondern auch an die Abgeordneten des britischen Parlaments. Die Chequers-Vorschläge mögen aufgrund ihrer Missachtung zentraler europäischer Prinzipien auf dem Kontinent Kopfschütteln ausgelöst haben, in der inner-britischen Diskussion gelten sie als großes, aus Sicht der Euroskeptiker viel zu großes, Zugeständnis an die EU. Großbritanniens zukünftige Beziehung mit der EU ist in beiden großen Parteien ein überaus kontroverses Thema.Das Scheitern eines Trennungsabkommens im Unterhaus ist eine reale Möglichkeit.
Die Möglichkeit, dass ein wie auch immer geartetes Trennungsabkommen keine Mehrheit im britischen Unterhaus findet, ist nicht zu unterschätzen. 80 Tory-Abgeordnete haben bereits angekündigt, gegen Chequers zu stimmen. Wenn sie diese Drohung wahr machen, müssten sich mindestens 70 Labour-Abgeordnete auf die Seite der Regierung schlagen, was vollkommen unrealistisch ist, zumal ihr Anführer Jeremy Corbyn die EU als neoliberalen Club verachtet und den Brexit befürwortet.
Normalerweise bedeutet eine Ablehnung eines internationalen Vertrages durch ein Landesparlament die Rückkehr zum Status quo ante. Nicht so in diesem Fall. Da die May-Regierung im März 2017 das Artikel 50-Verfahren der Europäischen Verträge eingeleitet hat, scheidet das Vereinigte Königreich mit oder ohne Abkommen am 29. März 2019 aus der EU aus. Scheitert das Trennungsabkommen im Parlament, hätte dies unweigerlich eine Regierungskrise und im Zweifel Neuwahlen zur Folge. Ohne eine Verlängerung der Artikel 50-Phase würde die Zeit für neue Verhandlungen mit der EU oder ein zweites Referendum zu knapp. Und selbst wenn die EU27 einem solchen Aufschub zustimmen würden, gäbe es überhaupt keine Gewissheit, dass ein zweites Referendum anders ausgehen würde als das erste. Zum Brexit ist ein zweistufiges Verfahren: Es geht zum erst um die Trennung und danach um die künftigen Beziehungen.
Angesichts dieser vertrackten Situation ist es entscheidend zu bedenken, dass der Brexit ein zweistufiges Verfahren ist. Priorität hat das Trennungsabkommen, das bis zum Winter abgeschlossen werden muss, und in dem die ausstehenden finanziellen Verbindlichkeiten des Vereinigten Königreichs gegenüber der EU, die Rechte der dort lebenden EU-Bürger, und die Zukunft der irischen Grenze geregelt werden müssen. Diesem Abkommen zur Seite gestellt wird eine politische Absichtserklärung, wie das künftige Verhältnis, vor allem in Handels- und Sicherheitsfragen, aussehen soll. Die auf den 29. März 2019 folgende zweijährige Übergangsphase nach dem Brexit ist dazu gedacht, die Details vertraglich festzulegen. Nun liegt es nahe, die politische Erklärung, die ja sowieso keine rechtliche Verbindlichkeit besitzt, so vage wie möglich zu formulieren. Dies könnte die Chancen erhöhen, dass das Trennungsabkommen vom zerstrittenen britischen Parlament ratifiziert wird. Aus Sicht der EU ist dies ein Zugeständnis. Gerade Angela Merkel hatte ursprünglich auf einer detaillierten und klaren Absichtserklärung bestanden, eine Haltung, von der sie inzwischen klugerweise abzurücken scheint. Ohne Risiken ist auch dieser Schachzug nicht. Niemand kann garantieren, dass die Abgeordneten einen solchen „blinden Brexit“ zulassen würden. Ein No-Deal-Brexit hätte verheerende Konsequenzen für alle Seiten.
Ein No-Deal-Brexit hätte verheerende Konsequenzen für alle Seiten. Das macht ihn aber leider nicht unwahrscheinlicher. Die Uhr lässt sich nicht bis zum Frühjahr 2016 zurückdrehen. Das Beste, worauf Briten und Europäer hoffen können, sind Jahre der Unsicherheit, die immer noch besser wären, als ein abrupter Bruch mit einem engen und wichtigen Verbündeten in einer von Krisen und Unsicherheiten erschütterten Welt.
*) geändert um 12.50. Zuvor stand hier Guter-Freitag-Abkommen - als wörtliche Übersetzung "Good Friday Agreement"