Europa und der Brexit : Das riskante Desinteresse - an einer nahenden Katastrophe

In weniger als zehn Monaten soll das Vereinigte Königreich die EU verlassen, und immer noch gibt es auf der Insel keine klare Vorstellung davon, wie die künftigen Beziehungen mit der EU gestaltet werden sollen. Deutschlands Aufmerksamkeit hingegen scheint abgelenkt von einer Vielzahl anderer internationaler Krisen : Wir starren mit begründeter Sorge auf das Anwachsen populistischer Strömungen insbesondere bei unseren europäischen Nachbarn und die Krise im transatlantischen Verhältnis. Dennoch darf dies den Blick über den Ärmelkanal nicht verstellen: Uns bleibt nur noch wenig Zeit, um ein Abdriften in eine neue Krise zu verhindern, die uns alle, Briten wie Kontinentaleuropäer, empfindlich treffen könnte.
Trotz einer langen und erschöpfenden Debatte, die in Großbritannien die politischen Parteien, die Zivilgesellschaft und viele Familien in Unterstützer und Gegner des Brexit gespaltet hat, gibt es heute auf der Insel immer noch keinen Konsensus darüber, wie die künftigen Beziehungen zur EU aussehen sollen. Wenn das britische Parlament nicht in den nächsten Wochen die Notbremse zieht, wird Großbritannien am 29. März 2019 aus der EU ausscheiden.
Dennoch ist die öffentliche Debatte über den Brexit im Vereinigten Königreich bislang von erstaunlicher Oberflächlichkeit: Statt den Blick auf die langfristigen wirtschaftlichen und politischen Folgen des Austritts zu richten, streitet man dort über eher technische Fragen: Man diskutiert oft verbittert, wie industrielle Lieferketten nach dem Verlassen der Zollunion weiter funktionieren können, wie man das Entstehen einer „harten“ Grenze zu Nordirland vielleicht durch neuartige IT-Lösungen verhindern kann, welche fantastischen Perspektiven sich angeblich mit dem Ende der Regulierung aus Brüssel eröffnen. Gleichzeitig liegt ein Ozean von höchst folgenreichen Detailfragen vollkommen ungelöst vor uns: Fragen, wie künftig in Großbritannien entwickelte Medikamente in der EU zugelassen werden können, welche Rechtsgrundlage es künftig für den Flugverkehr geben wird, wie man bei der Terrorbekämpfung zusammen arbeiten kann, wie Studierende Zugang zu Universitäten auf der jeweils anderen Seite des Kanals erhalten können, welche Regeln für den Mobilfunk gelten sollen, sind nur eine kleine Auswahl. Die Meinung vieler: Den Brexit sollte man den Fachleuten in Brüssel überlassen
Aber auch auf dem Kontinent schaffen es diese Fragen, die uns alle direkt betreffen werden, nur selten in die Schlagzeilen. In vielen EU-Staaten sind es die Populisten, die die Verlierer der Globalisierung mit unerfüllbaren Versprechungen für eine anti-europäische Politik zu gewinnen versuchen, die die öffentliche Diskussion bestimmen. Der überall spürbare Trend zu mehr Protektionismus, das ungelöste Problem globaler Migrationsströme, die Vielzahl internationaler Konflikte lassen den Brexit als ein zweitrangiges Problem erscheinen, das man vielleicht besser den Fachleuten in Brüssel überlassen sollte.
Wir sind der Überzeugung, dass aus diesem Mangel an Betroffenheit Missverständnisse und Fehlkalkulationen in den Brexit-Verhandlungen erwachsen können, die die Zukunft der europäischen Völker in einer Zeit gefährden, in der wir ein gemeinsames Auftreten mehr brauchen als jemals zuvor: Großbritannien muss an unserer Seite gehalten werden
Der an vielen Orten der Welt zu beobachtende Angriff auf liberale demokratische Werte, die wachsende Selbstgewissheit autoritärer Herrscher, die ins Schwanken geratene globale Ordnung, die auf den Rückzug der USA nicht vorbereitet ist, der Zusammenbruch staatlicher Ordnung in vielen Ländern des Mittleren Osten und Afrikas sowie das dadurch verursachte menschliche Leid mit der Folge gewaltiger Flüchtlingsströme sind Herausforderungen, die die einzelnen Nationalstaaten überfordern. Die Europäische Union ist als Wertegemeinschaft, die die ökonomischen und politischen Ziele ihrer Mitgliedsstaaten bündelt, in einzigartiger Weise geeignet, diesem Trend entgegen zu treten.
Wir dürfen das Ziel nicht aufgeben, Großbritannien- in welcher Form auch immer- dabei an unserer Seite zu halten.Die sozialen und kulturellen Trends Deutschlands und Großbritanniens sind sich sehr ähnlich
Uns erscheint es offensichtlich, dass Großbritannien auch nach Brexit nicht nur wegen seiner Wertebasis und wirtschaftlichen Orientierung ein europäisches Land ist und bleiben wird; auch die öffentliche Diskussion, die sozialen und kulturellen Trends sind einander fast immer sehr ähnlich. Wir sind überzeugt, dass auch die nächste Generation von jungen Briten ungehindert von Berlin nach Manchester, von Edinburgh nach München und von Paris nach London wird reisen wollen und neben ihrer eigenen nationalen auch eine gemeinsame europäische Identität entwickeln wird.
Es wird daher wichtig sein, das die vor uns liegenden Kontroversen in den Brexit-Verhandlungen nicht zu einer dauerhaften Entfremdung führen und das über Jahrzehnte gewachsene Vertrauen beschädigen. Wir müssen die Tür für eine enge Anbindung des Vereinigten Königreichs an Europa für die nächste Generation offenhalten. Europa darf Großbritannien nicht aufgeben.Großbritanniens Hoffnung nach dem großen Aufschwung wird nicht erfüllt werden
Die Erwartung der Brexiteers, dass für London mit dem Verlassen der EU ein neues goldenes Zeitalter des Freihandels mit Drittstaaten anbreche, sobald man nur die Brüsseler Fesseln abgestreift habe, wird nach unserer Überzeugung in tiefer Enttäuschung enden. Der von Präsident Trump verkündete Slogan 'America first' beweist, dass Handelsbeziehungen künftig noch mehr von Eigeninteressen und nicht von historisierender Sentimentalität bestimmt werden.
Vielmehr dürfte es für London sogar schon schwer werden, den Status quo zu halten, also auch nur die gleichen Handelskonzessionen von Drittstaaten zu erreichen, die die EU mit dem Gewicht des größten Binnenmarkts der Welt im Rücken für die Mitgliedstaaten erstritten hat. In einer Welt neuer Realpolitik, wo das gegenseitige Vertrauen abzunehmen scheint und die internationalen Institutionen an Kraft verlieren, zählt das wirtschaftliche Gewicht der Verhandlungspartner mehr als zuvor. Alleingänge sind grundsätzlich keine gute Idee für mittelgroße Staaten wie Großbritannien, das seine Hoffnung vor allem auf den Export von Dienstleistungen setzt.
Dem Vereinigten Königreich bleiben nur wenige Optionen, um Konzessionen von Drittstaaten zu erhalten: Es könnte Beschränkungen im Agrarbereich aufheben, zu Lasten der eigenen Farmer, die derzeit in vor allem in den EU-Binnenmarkt exportieren. Es könnte einen Unterbietungswettlauf bei Umwelt-, Steuer- und Sozialstandards beginnen, zu Lasten der eigenen Bevölkerung. Es könnte Ländern wie Indien die geforderten zusätzlichen Einwanderungsvisa anbieten, was im Gegensatz zu der bisherigen britischen Politik steht. Die Chancen, neue Märkte für britische Dienstleistungen aufzubrechen, stehen daher schlecht. Und, schlimmer noch: Wenn Großbritannien eigene Freihandelsabkommen mit Dritten abschließt, entsteht zwangsläufig eine neue Zollgrenze auf den weißen Kliffs von Dover, wo derzeit noch endlose Containerladungen zoll- und bürokratiefrei verschifft werden. Weder Regierungen noch Unternehmen können sich einen Vorteil davon versprechen, wenn dort statt dessen die -meist geringen- von der WTO gestatteten Zollsätze erhoben werden, und wenn nach dem Brexit komplizierte Formulare und Ursprungszeugnisse ausgefüllt werden müssen. Sobald in Großbritannien erkannt wird, dass der Traum von lukrativen Freihandelsverträge mit Drittstaaten post Brexit eine Illusion sind, sollte der Verbleib Großbritanniens zumindest in der europäischen Zollunion an Attraktivität gewinnen.Wir brauchen mehr Dialog zwischen Brüssel und London
Das Drama um den Brexit hat aber auch eine Botschaft für die 27 in der EU verbleibenden Staaten: Sie sollten den 52% der Briten, die für den Austritt gestimmt haben, nicht das Gefühl vermitteln, dass ihre Sorgen und Argumente nicht gehört wurden. Die in Großbritannien weit verbreitete Kritik an der Zentralisierung von Entscheidungen, die besser vor Ort getroffen werden sollten, ist trotz des oft gegebenen Versprechens von mehr Subsidiarität nach wie vor akut. Wenn die nächste Runde der Haushaltsplanung der EU auf den Vorwurf der Brexiteers, Brüssel sei vor allem eine gigantische und teure Geldumverteilungsmaschine, keine Antwort gibt, wird es schwer, das entstandene Feindbild abzubauen. Wir brauchen mehr Dialog.Europa sollte für künftige Generationen offen bleiben
Die Briten hingegen werden akzeptieren müssen, dass sich für die EU27 die Welt nicht um den Brexit dreht. Es liegt jetzt vor allem bei der Regierung in Westminster, Perspektiven zu entwickeln, wie ein Mittelweg zwischen den für Großbritannien allesamt unattraktiven Alternativen aussehen könnte. Aber Europa, und hier insbesondere Deutschland, sollte künftigen Generationen in Großbritannien den Weg zurück offen halten; in ein Europa, das einerseits Geduld in dieser Phase britischer Nabelschau aufbringt, aber andererseits auch die hart erkämpften Strukturen der europäischen Einigung verteidigt.