Sicherheitspolitik nach dem Berliner Attentat : Eine offene und demokratische Gesellschaft bleibt verwundbar

Wir sind Stand heute noch weit davon entfernt, den schrecklichen Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz aufgeklärt zu haben. Die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden laufen auf Hochtouren. Stündlich treten neue Details zu Tage. Und als ob es diese Unklarheiten nicht gäbe, überbieten sich die CDU/CSU, aber auch die FDP - waren das nicht mal die Liberalen? - in immer kürzer werden Abständen mit Vorschlägen, die am Fundament des Rechtstaates rütteln. Elektronische Fußfesseln, Präventivhaft, Transitzentren, Komplettüberwachung, Militarisierung der Innenpolitik – da mag man gar nicht daran denken, welche Blüten diese Debatte noch treibt. Wenn wir all das umsetzen würden, wäre das ein Riesenerfolg für die Islamisten, die es ja genau auf diesen unseren freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat abgesehen haben. Es geht nicht mehr um Fakten, sondern nur noch um Emotionen
Was wir in diesem Wettbewerb der Rechtstaatsvergessenheit erleben ist die Folge eines präfaktischen Politikverständnisses. Der bloße Anschein reicht, um Stimmungen in der Bevölkerung zu schüren. Eine Analyse der Tatsachen ist nicht notwendig, es geht nur darum, das richtige emotionale Setting für die Präsentation von politischen Initiativen abzuwarten. Dieser präfaktische Ansatz hat mit solider Sicherheitspolitik nichts zu tun. Im Gegenteil: Er wiegelt auf, vermittelt Unsicherheit und schürt Ängste und Ressentiments. So auch dieses Mal, wenn Seehofer und Co als erste Reaktion auf den Anschlag in Berlin die Flüchtlingspolitik als Kernproblem identifizieren. Das war noch, als ein pakistanischer Flüchtling im Fokus der Ermittler stand. Als dann einen Tag nach dem Anschlag durchsickerte, dass dieser mit dem Anschlag wahrscheinlich nichts zu tun hat, gerieten die populistischen Mühlen der Unionsparteien kurz ins Stocken. Geradezu erleichtert schien man dann zur Kenntnis zu nehmen, dass der nun Verdächtige tunesische Wurzeln zu haben scheint, so dass man seitens der Union ohne mit der Wimper zu zucken, gleich einmal die Debatte zur Einstufung u.a. Tunesiens als sicheren Herkunftsstaat aus der Schublade zu zog. Was ist das für ein sach- und faktenfremdes Politikverständnis? Durch solche Aussagen, die man einfach nicht mehr als unbedacht bezeichnen kann, fühlen sich auch diejenigen bestärkt, die Anschläge auf Flüchtlinge und deren Einrichtungen verüben. Um die 1000 waren es laut BKA wieder in 2016. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, aber wir haben gerade als Innenpolitiker die Verantwortung, Hass und Gewalt nicht auch noch zu schüren. Gute Sicherheitspolitik braucht einen langen Atem
Ich sehe unsere Aufgabe in der Sicherheitspolitik darin, immer auf Faktengrundlage nach Lösungen zu suchen. Auch dann wird man Debatten über den richtigen Weg führen, so ist das zum Glück in einer Demokratie. Aber da es in Fragen der inneren Sicherheit um konkrete Ängste der Menschen geht, sind wir es der Bevölkerung schuldig, Ursache und Wirkung beispielsweise eines Anschlaggeschehens sorgfältig zu analysieren. Das bedeutet natürlich, dass wir uns der Tat mit klaren Fragestellungen nähern, die für die Analyse wichtig sind. War der mutmaßliche Täter auf dem Schirm der Sicherheitsbehörden und wenn ja seit wann und in welchem Zusammenhang? War er als Gefährder eingestuft? Haben wir Erkenntnisse zu möglichen Netzwerkstrukturen? Klappt mit Blick auf den vorliegenden Fall die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, sowohl zwischen Bund und Ländern als auch zwischen Nachrichtendiensten und der Polizei? Wie funktionierte die Koordination im Gemeinsamen Terrorismus Abwehrzentrum (GTAZ)?. Gute Sicherheitspolitik braucht einen langen Atem mit der Bereitschaft, sich auf einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess einzulassen. Hektische Sprunghaftigkeit ist nicht gefragt und schafft vor allem nicht das dringend notwendige Vertrauen der Menschen. Eine offene und demokratische Gesellschaft wird immer verwundbar sein
Die ruhige und besonnene Reaktion der Bevölkerung auf den Anschlag am 19.12.2016 zeigt dabei doch, wie groß die Sehnsucht bei den Menschen ist, dass unsere freie Gesellschaft durch solche Ereignisse nicht aus dem Tritt gerät. Sie wollen, dass Sicherheitspolitik das Geschehen aufarbeitet und die erkannten Probleme an der Sache orientiert löst. In diesem Zusammenhang erscheint es zum Beispiel sinnvoll, ein Sicherheitskonzept gerade für die besonders gefährdeten Ballungsräume zu entwickeln, an dem sich die unterschiedlichen föderalen Akteure beteiligen. Hier können (selbstverständlich vertraulich) sensible Zeiträume und Orte definiert werden, die für potentielle Anschläge besonders in Frage kommen. Auf dieser Grundlage lassen sich Einsatzkonzepte entwickeln und abstimmen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Bundesinnenminister einen solchen Prozess anschieben würde, auch wenn ich mir selbstverständlich dessen bewusst bin, dass eine offene und demokratische, auf dem Rechtstaat fußende Gesellschaft immer verwundbar bleibt. Aber genau wie viele andere Menschen lehne ich eine Innenpolitik ab, die diesen Wertebogen verlässt und entkernt.