Anschläge und Terror : Der Rechtsstaat im Stresstest

Am 19. Dezember 2016 musste die Bundesrepublik schmerzvoll jene »Grenzerfahrung«, machen, mit der andere demokratische Länder wie Frankreich, Großbritannien, Spanien oder die USA bereits mehrfach konfrontiert worden sind. Ein terroristischer Anschlag an einem belebten öffentlichen Ort riss viele Menschen aus dem Leben oder verletzte sie schwer. Die unerhörte Brutalität solcher Ereignisse wirft immer erneut die Frage auf, wie eine freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung darauf reagieren sollte und vor allem, wie sie sich gegen solche Verbrechen wappnen kann.
Die unmittelbaren Reaktionen sind – leider – stets die gleichen. Die Toten sind noch nicht identifiziert und begraben, die Tatumstände nicht geklärt und schon beginnt eine Debatte, in der die seriösen Fragen nach den Ursachen, Konsequenzen und den Verantwortlichen für mögliche Versäumnisse und Sicherheitsmängel durch Unterstellungen, absurde Schuldzuweisungen („Merkels Tote“) oder vermeintlich einfache radikale Lösungen überlagert werden. Die zwingend notwendige Unterscheidung zwischen präventiven Instrumenten, die terroristische Anschläge oder schwerste Verbrechen verhindern können und Maßnahmen, die nützlich und hilfreich für die Verfolgung schwerer Straftaten sind, geht meist in der allgemeinen Kakophonie sich überbietender Vorschläge unter. Die Aussetzung rechtsstaatlicher Verfahren taugt nicht zur Terrorbekämpfung.
Es sind seit Jahrzehnten die gleichen Vorschläge, die, wenn sie denn nur endlich verwirklicht würden, das Gespenst des Terrorismus vermeintlich bannen könnten: die personelle und finanzielle Aufrüstung der Sicherheitsbehörden und die massive Ausweitung ihrer Kompetenzen, die Einschränkung individueller Rechte, der „informationellen Selbstbestimmung“ oder verschiedenste Maßnahmen der Abschottung nach außen, gegenüber Fremden, Migranten oder Flüchtlingen, die Schutz oder ein besseres Leben in Europa suchen.
Die bittere Wahrheit aber ist, dass auch dringend notwendige Verbesserungen der Arbeitsbedingungen der Sicherheitsapparate schlussendlich keine absolute Sicherheit gewährleisten können. Und es ist auch eine nicht zu leugnende Tatsache, dass die – wenn auch nur zeitlich befristete – Einschränkung oder Aussetzung rechtsstaatlicher Verfahren im Ausnahmezustand nur begrenzte Wirkung entfalten kann. Selbst autokratische Regime wie in Russland oder in der Türkei, die, unter Missachtung des Rechts, alle Machtmittel mobilisieren, können das Problem nicht in den Griff bekommen. Die Terroristen wollen den Rechtsstaat zwingen, seine Prinzipien zu verraten.
Der Terrorismus unterwirft liberale Rechtsstaaten einem Stresstest. Inwieweit und mit welchem Erfolg sind sie in der Lage, nicht in die Falle zu tappen, die viele politisch oder ideologisch motivierte Terrorgruppen aufstellen, nämlich ihre eigenen Prinzipien aufzuweichen oder gar infrage zu stellen? Welche Mittel sind legitim, um diesen Angriffen auf Leib und Leben der Bürger und auf die bestehende Ordnung zu begegnen? Welche Mittel sind wirksam, um dies erfolgreich zu tun? Angesichts der neuen Welle terroristischer Gewalt seit dem 11. September 2001 fallen die Antworten höchst unterschiedlich aus – von der Kriegserklärung gegen den internationalen Terrorismus in den USA (war on terror), über die Verschärfung der Terrorismusgesetzgebung bis hin zur Erklärung des Ausnahmezustands wie in Frankreich.
Demokratien können nicht wie autoritäre Systeme mit uneingeschränkter Repression oder militärischen Mitteln gegen den Terrorismus vorgehen. Die ihnen immanente Begrenzung, Angriffen auf die Rechtsordnung im Allgemeinen und dem Terrorismus im Besonderen mit den Mitteln des Rechtsstaats zu begegnen, verweist sie auf zivile, also polizeiliche und strafrechtliche Verfahren und schließt militärische Antworten aus. Es sei denn, die jeweilige Verfassungsordnung sieht für bestimmte, klar definierte Ausnahme- und Notstandssituationen andere Wege wie den Einsatz des Militärs zur inneren Gefahrenbekämpfung vor.Nicht alles ist rechtsstaatlich legitimiert, was die Technik möglich macht.
Als vermeintlich wirksames Mittel erfolgreicher Gefahrenabwehr und Prävention wurden in vielen Ländern umfangreiche Gesetzgebungspakete verabschiedet, welche die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen haben, staatlicherseits in erheblichem Maße Einblicke in das Privatleben der Bürgerinnen und Bürger zu erlangen, auch von jenen, die keiner Straftat verdächtig sind. Die Entwicklungen in der Informationstechnologie machten es den staatlichen Behörden, vor allem den Geheimdiensten und sonstigen Sicherheitsapparaten, möglich, in einem bislang nicht gekannten Umfang Daten zu sammeln und auszuwerten. Der Datenschutz erwies sich oft als so löchrig wie ein Schweizer Käse.Der Terror darf nicht zur Wiederbelebung des Autoritarismus führen.
Es waren die Gerichte, vor allem das Bundesverfassungsgericht und neuerdings auch der Europäische Gerichtshof, die Regierungen und Parlamente daran erinnert haben, dass der demokratische Rechts- und Verfassungsstaat die Aufgabe der Sicherheitsgewährleistung nur dann glaubhaft erfüllen kann, wenn er als unverbrüchliche Grundlage seiner Legitimität die individuellen und bürgerlichen Freiheiten zur Leitlinie seines Handelns macht. Tut er dies nicht, gleitet er in einen Autoritarismus ab, der sich zwar des Rechts als Regelungsmechanismus bedient, aber den „Geist der Gesetze“ (Montesquieu) nicht achtet.
Ein Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik ist dringend notwendig. Dies haben die jüngsten Diskussionen über die Aktivitäten von Sicherheitsapparaten und deren Verselbstständigung offengelegt. Als Teil eines „staatlich-informationellen Komplexes“, sind sie in den vergangenen Jahrzehnten massiv ausgebaut worden und führen zunehmend ein Eigenleben. Es ist wie in Goethes Gedicht vom Zauberlehrling: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“.