Der Übermut des Radikalen
Vielleicht ist es typisch menschlich, zum Übermut zu neigen, vor allem dann, wenn man sich aus einer unangenehmen Lage herauslaviert hat, die zu ernsthaften Folgen hätte führen können. In der Politik allerdings ist der Übermut selten ein guter Impulsgeber, verführt er doch zu loser Zunge.
An Übermut jedenfalls lässt sich denken, wenn man sich die zunehmende verbale Enthemmung ansieht, die der Thüringer AfD-Kopf Björn Höcke an den Tag gelegt hat, seit am 9. Mai 2018 bundesweit darüber berichtet wurde, dass das u.a. wegen seiner Dresdner Rede gegen ihn eingeleitete Parteiausschlussverfahren vor dem Thüringer Landesparteischiedsgericht eingestellt wurde.
Nur wenige Tage später trat Höcke, der sich in den Monaten zuvor in der Öffentlichkeit deutlich zurückgehalten hatte, bei einer Pegida-Demonstration in Dresden auf und verbreitete dort nicht nur die Verschwörungstheorie von der „Neuen Weltordnung“, sondern diffamierte zudem politische Gegner als „Kräfte der Friedhofsruhe“ und des „politischen Todes“, während er sich und die seinen als „Kräfte des Volkes“, die „‘Ja‘ zum Leben sagen“, anpries.
Vielleicht war es wirklich der Übermut, das Parteiausschlussverfahren überstanden zu haben, welcher Höcke zu weiteren radikalen Äußerungen bewog, beispielsweise in seiner Rede Ende Juni auf dem „Kyffhäusertreffen“ der rechten, von ihm und dem brandenburgischen AfD-Kopf Andreas Kalbitz angeführten Parteigruppierung „Der Flügel“. Dort schwarzmalte Höcke, es sei „nicht auszuschließen, dass in 50 Jahren fremde Völkerschaften durch unsere verlassenen Bibliotheken, Konzertsäle, Universitäten und Parlamentsgebäude streifen werden und sich die Frage stellen könnten, wie es möglich war, dass eine so hochstehende Kultur sich einfach aus ihnen hat hinwegfegen lassen.“
Volkstod, Aufstand, Remigration
Wer bei derartigem Reden rechtsradikale Begriffe wie „Volkstod“ implizit mitschwingen hört, sollte den ebenfalls im Juni 2018 erschienenen Gesprächsband „Nie zweimal in denselben Fluss“ aufschlagen, in dem Höcke im Gespräch mit dem sächsischen Künstler Sebastian Hennig tatsächlich den „bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch” fürchtet und überdies, wie hier näher analysiert, seinen Aufstands- und, was „nicht integrierbare Migranten“ angeht, „Remigrations“-Fantasien freien Lauf lässt.
Möglicherweise ist es ganz generell der Übermut, der Höcke zu einem solchen Radikalen hat werden lassen, der mögliche Folgen seiner zahlreichen Aussprüche bei vielfachen Anlässen zu wenig überdenkt. Dabei geht es gar nicht einmal nur um die nun erfolgte Einstufung des „Flügels“ mit Höcke als „Dreh- und Angelpunkt“ als „Verdachtsfall“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz aufgrund bestimmter Äußerungen, die dieses als problematisch identifiziert hat. Weit darüber hinaus hat Höcke inzwischen insgesamt einen verheerenden Eindruck hinterlassen, vor allem mit dem erwähnten Buch, das vor gleichermaßen grotesken wie rechtsradikalen Ideen nur so strotzt.
In diesem Januar wurde es gleich in zwei Besprechungen ausführlich unter die Lupe genommen, und zwar in der „ZEIT“ und durch die Verfasserin dieses Beitrags in der „Huffington Post“. In diesem Buch geht der Wahl-Thüringer Höcke sogar so weit, zu beklagen, dass Teile des „Heimatlands” nach 1945 „ohne jede Volksbefragung den Nachbarstaaten zugeschlagen” wurden. Wer so daherredet und auch sonst so offensichtlich seine völkisch grundierten Träume zur Schau stellt, bugsiert sich und seine Partei zwangsläufig ins politische Abseits.
Interessanterweise ist Höckes Kurs auch aus neurechter Sicht strategisch äußerst unklug, vor allem dann, wenn man bedenkt, dass er ein enger Weggefährte des neurechten Verlegers Götz Kubitschek ist. Jener beschäftigt sich intensiv mit strategischen Erwägungen, gerade, was das Reden und Handeln von Politikern aus dem eigenen Milieu betrifft. Das lässt sich vor allem anhand eines Auftritts von Kubitschek auf einer AfD-Strategie-Tagung mit dem Titel „Quo Vadis AfD“ nachvollziehen, die am 15. Juli 2017 im sachsen-anhaltinischen Bad Dürrenberg stattfand. Kubitschek sprach dort über das sogenannte „Overton-Window“ bzw. „Window of discourse“, einem „Erklärungsansatz aus der ‚Regime-Change-Theorie‘“, wie er erläuterte, den man mit „Meinungskorridor“, „Möglichkeitsrahmen“ oder „Resonanzraum“ übersetzen könne.
Das Sagbare nach rechts verschieben, das sei die Aufgabe
Der Begriff „Overton-Window“ geht auf den US-Amerikaner Joseph P.Overton (1960-2003) zurück. Dieser ging Wikipedia zufolge von der Existenz eines politischen Fensters aus, welches „eine Reihe von Postulaten“ enthalte, „die im aktuellen Klima der öffentlichen Meinung als politisch akzeptabel angesehen werden und die ein Politiker empfehlen kann, ohne als zu extrem zu wirken, um ein öffentliches Amt zu erhalten oder zu behalten.“
In seinem Vortrag betonte Kubitschek, dass die Verschiebung dieses Overton-Fensters, also des akzeptablen Meinungskorridors gen rechts „die Grundaufgabe“ des eigenen „politischen Milieus“ sei, welches aus „Partei, Milieumedien, vorpolitischen Initiativen und aktivistischen Initiativen“ bestehe. Von diesen sei die Partei – gemeint ist natürlich die AfD – „mit Sicherheit der größte, der stärkste, auch bekannteste Akteur innerhalb dieses Milieus“.
Bei der angestrebten Verschiebung des Overton-Fensters sind aus Sicht von Kubitschek ein paar zentrale Punkte zu beachten. So seien „Begriffe, die undenkbar oder radikal sind vom Blick eines Normalbürgers aus, Begriffe und Themen“, welche die AfD „als Partei unbedingt meiden“ müsse. Stattdessen gelte es, sich jeweils zu fragen, „was akzeptabel oder vielleicht sogar nur gerade noch akzeptabel beim Blick durch das derzeitige Overton-Window“, also zwar „nicht innerhalb des Fensters, aber sehr nahe am Fenster dran“ sei. Diese Begriffe und Themen müsse man sodann „vorbereiten und im richtigen Moment mit dem richtigen Ton und der notwendigen Wucht setzen“, immer mit der „Zielrichtung nach außen“ auf diejenigen hin, die noch nicht Teil des eigenen Lagers seien, aber prinzipiell erreicht werden könnten. So, und zwar nur so, lasse sich das Overton-Fenster nach und nach in die eigene Richtung verschieben.
Höckes Reden wirken auch im eigenen Milieu bizarr
Im Lichte dieser Analyse von Kubitscheks lässt sich ohne weiteres konstatieren, dass Höcke so gut wie alles strategisch falsch gemacht hat, wenn es um die Erschließung neuer, namentlich bürgerlich-konservativer Milieus für die Neue Rechte geht. Statt das Overton-Window behutsam zu verschieben, hat er versucht, es aufzureißen und wurde von einem starken Luftzug erfasst, der ihn selbst für viele AfD-Sympathisanten zunehmend als realitätsfernen rechten Untergangsfantasten erscheinen lassen kann. Außerhalb des eigenen Milieus wirkt sein Reden erst recht bizarr.
Das dürfte für das neurechte Lager umso ärgerlicher sein, als Kubitschek in Bad Dürrenberg explizit AfD-Politiker in die Pflicht genommen hat, als er über die „Risiken, Fehler oder Gefahren“ bei der erwünschten Diskursverschiebung sprach. Kubitschek warnte vor „der Orientierung an dem, was die eigenen, die schon gewonnenen Leute für sinnvoll und akzeptabel halten“ und davor, dass „exponierte Politiker und Führungsfiguren“ der AfD „den Minenhund spielen, und Fehltritte auf noch unsicherem Terrain dadurch schwerwiegend werden“. „Den Minenhund“, so Kubitschek weiter, „spielt nie der Führer, den spielt immer jemand, den er vorschickt, und der einmal das Geländer erforscht und schaut, was kann man tun, was kann man sagen und liegen irgendwo Minen, auf die mein Chef nicht treten darf.“
Auch das hat Höcke nicht beherzigt. Im Gegenteil. Nahezu zielsicher ist er inzwischen auf eine Vielzahl zentraler Minen des gesellschaftlichen Grundkonsenses getreten.
Kubitschek wies am Ende seines Vortrags ausdrücklich darauf hin, dass die AfD „zweierlei Bezugsrahmen“, habe: „einen internen und externen“, weshalb zu akzeptieren sei, dass man „nach außen vielleicht auch einmal eine weiche Sprache pflegen“ müsse. Höcke hingegen schreibt in seinem Buch, dass „eine allgemeine Mäßigung und Verfeinerung im Ton“ zwar „sinnvoll“ sein könne, „primär aber eine Stil- und Geschmacksfrage“ sei und dass eine „verbale Abrüstung“ in jedem Fall „mit einer inhaltlichen Aufrüstung einhergehen“ müsse. Auch insofern hat er also wenig von Kubitscheks Diskursverschiebungsstrategie verstanden. Und das, obwohl selbiger eindringlich dazu aufrief, „jeden Fehler zu vermeiden versuchen vor dem sogenannten Overton-Window“. „Experimentierfelder“ gebe es „woanders, aber nicht dort, wo es staatstragend wird“.
Als Fazit also bleibt, dass Höcke neben allem anderen offenbar auch ein unvorsichtiger Politiker ist, der zu wenig von politischer Strategie versteht und seinem eigenen Milieu mittlerweile weitaus mehr schaden als nützen dürfte.