Europa kann sich nicht mehr in Sicherheit wiegen
Manchmal gibt es in der Politik diese Momente, in denen durch all die Hektik und das Gedröhne der Tagespolitik ein paar grundlegende Wahrheiten aufscheinen. In der Außen- und Sicherheitspolitik waren die Tage seit der Münchener Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende so ein Moment. Die Illusionen haben Pause und die Realitäten drängen sich auf. Das beginnt mit einer Wahrheit, der sich die neue amerikanische Regierung stellen musste, nachdem sie wochenlang so tat, als würden die Regeln der Schwerkraft für sie nicht gelten.
Vizepräsident Mike Pence und Verteidigungsminister James Mattis waren nach Europa gekommen, um den Europäern ordentlich Feuer zu machen in Sachen Lastenteilung innerhalb der NATO. Ein wenig ist ihnen das auch gelungen, aber am Ende konnten auch sie sich nicht befreien aus dem klassischen Dilemma der Supermacht: Einerseits müssen die Amerikaner aus innenpolitischen Gründen Druck auf ihre Alliierten ausüben, damit diese endlich im Bündnis einen größeren Teil der Kosten übernehmen.
Andererseits muss Washington den Europäern gleichzeitig immer wieder versichern, dass die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa nicht zur Disposition steht, und dass man sich auf Amerika verlassen kann. Täten die USA das nicht, würden sie sich eine Blöße geben und der Status als verlässliche Supermacht wäre in Gefahr. Denn wenn Amerika sich zu Europa verhält, dann nehmen das ja nicht nur die Europäer wahr, sondern die ganze Welt schaut zu und taxiert, wie viel Wert eine amerikanische Sicherheitsgarantie noch hat.
Das Dilemma einer Supermacht
Einerseits muss Washington also Druck aufbauen, andererseits muss es rückversichern, was den Druck gleich wieder wegnimmt. Das Supermacht-Dilemma, das keine Regierung seit Bill Clinton vermeiden konnte, holt jetzt auch Donald Trump und seine Minister ein, obwohl sie sich so fest vorgenommen hatten, aus dem alten Trott auszubrechen. Es wird ihnen nicht gelingen, jedenfalls nicht, solange sie daran interessiert sind, in den Augen Moskaus und Pekings als stark zu gelten. Für diese Stärke bleibt Europa der wichtigste Testmarkt.
Für die Europäer ergibt sich aus dieser amerikanischen Grundwahrheit eine ganz eigene Einsicht in die Realitäten. Denn auf die disziplinierende Kraft des amerikanischen Dilemmas sollten sie für die eigene Sicherheit nicht allzu sehr verlassen. Sie mag konventionelle Politiker wie Barack Obama, George W. Bush und Bill Clinton (oder eben auch Mattis und Pence) noch auf Linie gebracht haben. Bei Trump, dessen Kosten-Nutzen-Kalkulation in der Politik aber alles andere als konventionell ist, könnte die Rechnung nicht aufgehen. Trump bleibt die Wild Card der europäischen Sicherheitspolitik, und deswegen waren die Botschaften seiner wichtigsten Mitarbeiter für die Europäer auch alles andere als beruhigend, auch wenn es erst einmal den Anschein hatte.
Doch Trump ist nicht der Grund für Europas Unsicherheit, er macht nur sichtbarer, was an Bedrohungen ohnehin existiert. Europas Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert, was ein kurzer Blick auf die Landkarte und in die Zeitungen täglich verdeutlicht. Ob es sich um Russland handelt, das sich wieder explizit als Gegner des Westens und der westlichen Ordnung definiert, was sich in der Ukraine, bei Hackerangriffen auf deutsche Behörden und Ministerien oder durch die zersetzende Propaganda bei Sendern wie Sputnik und RT zeigt. Oder ob es um den Ring instabiler Staaten vom Balkan über die Türkei und den Nahen Osten bis nach Nordafrika geht, deren Krisen sich mit Islamismus, Flüchtlingen und Terroranschlägen in Europa sehr konkret bemerkbar machen.
Europa kann sich nicht länger in Sicherheit wiegen
Europa hat keinen Grund, sich weiter auf die Bindekraft des amerikanischen Supermachtdilemmas zu verlassen. Aber Europa hat erst recht keinen Grund mehr, sich noch länger in Sicherheit zu wiegen. Die eigentliche Erschütterungen des Kontinents sind nicht Populisten und auch nicht syrische Flüchtlinge. Es ist die Einsicht, dass Europa selbst ein instabiles Gebilde ist, das von noch instabilerem Terrain umgeben ist. Und dass es nicht billig wird, in dieser wackeligen Gesamtkonstruktion den Frieden zu sichern.
Deswegen ist es auch so fatal, wenn der noch neue deutsche Außenminister jetzt so tut, als täte Deutschland Amerika einen willfährigen Gefallen, wenn es mehr für Verteidigung und Diplomatie ausgibt. Deutschland muss dies aus übergroßem eigenen Interesse tun, nicht weil es Befehlsempfänger ist. Wer suggeriert, dass das alles nicht nötig sei, demonstriert nur, dass er den Wahlkampf für wichtiger hält, als eine kluge Antwort des Landes auf eilige strategischen Probleme.
Die sicherheitspolitische Abhängigkeit Deutschlands und der Europäer von Amerika wird so schnell nicht verschwinden. Die Investitionen, die jetzt nötig sind, tätigt man aber nicht, um sich an Trump anzuwanzen. Man muss sie tun, weil die Sicherheitslage Europas sie zwingend erforderlich macht. Sie sind im nationalen Interesse Deutschlands. Wenn sie dann auch noch im Interesse Washingtons sind, dann macht es die Sache nicht schlechter.