Alter schützt nicht vor Haft
Oskar Gröning wurde vor gut zwei Jahren vom Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 300 000 Menschen zu vier Jahren Haft verurteilt. Bisher musste er die Haft noch nicht antreten, aber nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle ( 3 Ws 491/17) rückt die Haft ein gutes Stück näher.
Das OLG Celle hält den mittlerweile 96-jährigen Gröning trotz seines hohen Alters für haftfähig und sieht in dem Vollzug der Haft keine Grundrechtsgefährdung des Verurteilten. Die Verteidigung sieht das naturgemäß anders und hat gegen die Entscheidung eine Anhörungs,- auch Gehörsrüge genannt, erhoben, insbesondere, weil der Amtsarzt Gröning nicht selbst körperlich untersucht habe und ein von der Verteidigung beauftragter Gutachter dies getan und die Vollzugsuntauglichkeit festgestellt hat.
Auch alte Menschen gehören ins Gefängnis
Nun mutet es vielleicht merkwürdig an, sich einen 96-jährigen im Gefängnis vorzustellen. Alte Menschen im Strafvollzug sind aber keine Seltenheit. Alter alleine schützt vor der Verbüßung einer Strafe nicht. Der demografische Wandel macht auch vor den Justizvollzugsanstalten keinen Halt und es gibt bereits eine eigens für Senioren konzipierte Haftanstalt in Singen.
Die Vollzugstauglichkeit ist in § 455 StPO abschließend geregelt. Dort heißt es:
§ 455 Strafausstand wegen Vollzugsuntauglichkeit
(1) Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist aufzuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt.
(2) Dasselbe gilt bei anderen Krankheiten, wenn von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist.
(3) Die Strafvollstreckung kann auch dann aufgeschoben werden, wenn sich der Verurteilte in einem körperlichen Zustand befindet, bei dem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist.
(4) Die Vollstreckungsbehörde kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe unterbrechen, wenn
1. der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt,
2. wegen einer Krankheit von der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist oder
3. der Verurteilte sonst schwer erkrankt und die Krankheit in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann und zu erwarten ist, dass die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird. Die Vollstreckung darf nicht unterbrochen werden, wenn überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen.
Die Vollzugstauglichkeit ist eine Rechtsfrage, keine Frage der Gnadenentscheidung
Wie Sie sehen, ist der Begriff der Vollzugstauglichkeit gar nicht positiv definiert. Aus der Negativdefinition kann man jedoch den Schluss ziehen, dass jemand dann haftfähig ist, wenn er körperlich und geistig, ohne Gefahr für Gesundheit oder Leben in der Lage ist, in einer Strafvollzugseinrichtung leben zu können, den Freiheitsentzug zu ertragen und den Sinn und Zweck der Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu erkennen.
Wichtig ist zu wissen, dass es sich bei der Frage der Vollzugstauglichkeit um eine Rechtsfrage und nicht um die Frage einer Gnadenentscheidung handelt. Dazu bedarf es nicht einmal eines Antrags des Verurteilten oder seiner Verteidigung, vielmehr ist die Haftfähigkeit von Amts wegen stets zu überprüfen, sowohl vor Haftantritt, als auch während einer Haftverbüßung.
Bei den Absätzen 1 und 2 – also bei Geisteskrankheit und Lebensgefahr - ist das auch keine Ermessensfrage, sondern zwingendes Recht.
Dass ein 96-jähriger schon aus Altersgründen bereits ein nahes Date mit dem Tod hat, ist kein Fall des Absatzes 2, denn nicht die Lebensgefahr als solche schließt eine Vollzugstauglichkeit aus, sondern nur eine solche die von der Vollstreckung selbst ausgeht. Auf gut Deutsch, wenn man den Löffel außerhalb des Vollzugs abgeben würde, dann kann man das auch im Vollzug. Selbsttötungsdrohungen sowohl vom Verurteilten als auch von Dritten, wie z.B. einer verzweifelten Ehefrau, spielen in aller Regel auch keine Rolle.
Das mag jetzt irgendwie grausam klingen, man darf aber nicht vergessen, dass die Strafverbüßung ganz am Ende des Strafverfahrens steht und der gesamte Vorlauf von Ermittlungsverfahren, Hauptverhandlung, Verurteilung, Berufung, Revision und Entscheidungen zur Strafvollstreckung letztlich Makulatur würden, wenn man die Haftvermeidung zu leicht machen würde. Und es ist ja nicht der böse, gnadenlose Rechtsstaat, der diese Sanktion aus heiterem Himmel verhängt hat, sondern der Täter, der in der Regel bewusst gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßen hat. Hätte er ja nicht tun müssen.
Auf der anderen Seite dürfen aber auch die Grundrechte eines Verurteilten nicht derart missachtet werden, dass sein Menschenwürde missachtet wird. So ist eine Haft unzulässig, wenn die Erkrankung des Verurteilten weder in der Justizvollzugsanstalt – das kann auch ein Vollzugsanstaltskrankenhaus - noch ambulant außerhalb der JVA behandelt werden kann.
Der Strafausstand nach § 455 StPO kennt keine zeitliche Begrenzung. Wenn und solange die Vollzugsuntauglichkeit vorliegt, bleibt der Vollzug der Strafe ausgesetzt, auch wenn am Ende der Vollzugsuntauglichkeit der Tod und damit die endgültige Unmöglichkeit der Haft steht.
Gelingt es also Gröning jetzt noch, mit seiner Gehörsrüge durchzudringen, dann wird ihm die Verbüßung der Strafe mit hoher Wahrscheinlichkeit gänzlich erspart bleiben. Ob das der Fall sein wird, werden wir eventuell schon bald erfahren. Es ist allerdings davon auszugehen, dass sich einer erfolglosen Gehörsrüge noch eine Verfassungsbeschwerde anschließen wird. Und was dabei herauskommen wird, ist schwer zu kalkulieren. Dass Gröning wirklich seine Strafe verbüssen muss, glaube ich erst, wenn er einsitzt.