Wer und was in Chemnitz fehlt. Und in anderen Städten auch.
Prof. Dr. Felicitas Hillmann, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, leitet die Abteilung „Regenerierung von Städten“ und ist Professorin an der TU Berlin, Institut für Stadt- und Regionalplanung. Im Juni dieses Jahres erstellte sie die Studie „Kulturelle Vielfalt in Städten. Fakten – Positionen – Strategien.
Bei den vielen Argumenten, die man über die Auseinandersetzungen in Chemnitz hört, fehlt eines. Man findet es in der Bevölkerungsvorausberechnung der Stadt Chemnitz (2016). Chemnitz, einst eine Stadt mit etwa 315.000 Einwohnern (1990), verlor bis 2009 75.000 dieser Einwohner, also rund 30 %. Vor allem die jungen Frauen gingen weg. Seitdem arbeitete sich die Stadt sehr langsam wieder auf 248.000 Einwohner (2015) hoch. Die Stadt weiß, dass sie für eine gelingende Entwicklung Zuwanderung braucht. Was dazu auf Seiten der Stadtplanung und –entwicklung getan wurde, entspricht dem, was in anderen Städten auch läuft: Es gibt eine Willkommensbroschüre für Ausländer, es gibt Orientierungsangebote für Neuankömmlinge. Es gibt auch eine Migrationsbeauftragte und einen Migrationsbeirat.
Chemnitz verfügt "über eine demografische Struktur, wie sie andere Städte erst ab dem Jahr 2025 erwartet".
Die Migrationsbeauftragte findet, dass die Kommune einen „guten und für andere Kommunen beispielhaften Weg“ geht. Und dass „Behörden und Träger […] gut miteinander vernetzt“ sind. Touristen kommen ebenfalls nach Chemnitz, nicht so viele wie im restlichen Sachsen. Tatsächlich belegen die Zahlen des Statistischen Amtes, dass die Bevölkerungszunahme seit 2009 „vor allem auf die verstärkte Zuwanderung von Ausländern“ zurückgeht. Es handelt im Wesentlichen um drei Gruppen: Studenten, Asylbewerber und solche Migranten, die im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union kommen. Was heißt das für die Stadt? Die insgesamt 3.001 ausländischen Studierenden machen immerhin rund ein Viertel der 11.135 Studierenden in Chemnitz aus, vermutlich studieren sie aber eher technische Fächer. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um bedürftige Schutzsuchende, d.h. Flüchtlinge (6.155 Menschen).Die dritte große Gruppe aus Ost- und Südosteuropa ist wahrscheinlich eher im Niedriglohnsektor tätig. Es kommen damit überwiegend solche Gruppen, die durch ihre Lebenssituation relativ weit weg von der Stadtgesellschaft sind. Doch nicht nur das: vielleicht noch aufschlussreicher ist die Statistik über die, die von Chemnitz weggehen. Es sind vor allem die mobilen jungen Menschen (18 – 30 Jahre), vor allem die Frauen zwischen 18 und 26 Jahren. Wieder. Nach der Wiedervereinigung ist schon einmal eine ganze Generation auf und davon und deren Kinder fehlen jetzt. Das Geburtenniveau blieb in den letzten Jahren nur stabil, weil weniger Frauen mehr Kinder kriegten. Chemnitz, so die Autoren einer Stadtstudie, verfügt heute schon „über eine demografische Struktur, wie sie andere Städte erst ab dem Jahr 2025 erwarten“.
Damit eine Stadt wachsen kann, muss sie Migration und Mobilität anziehen.
Die Stadtplanung in Chemnitz hat auf die Bevölkerungsschrumpfung mit dem Abriss überflüssiger Gebäude reagiert. Jetzt offenbart sich ein bundesweites Problem der Stadtplanung: sie erreicht mit den herkömmlichen Planungsinstrumenten große Teile der jungen Zivilbevölkerung nicht mehr. Anders als in vielen anderen deutschen Städten ist außerdem der Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund schmal, von 26.000 Kindern unter 15 Jahren hatten 2011 2.982 einen Migrationshintergrund. Bemerkbar macht sich dieser geringe Anteil später auch da, wo die Stadtgesellschaft sichtbar wird: bei der Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Nicht mal ein halbes Prozent hat Ende 2016 in Sachsen ausländische Wurzeln und bei Beschäftigung in Kitas und im Vorschulbereich liegt der Anteil der „Ausländer“ bei mageren 1,22 %. Im Gegensatz dazu bildet in vielen westdeutschen Großstädten die Minderheitenbevölkerung in den jungen Altersgruppen teilweise die Mehrheit. Die öffentlichen Institutionen arbeiten dort seit Jahren aktiv an einem positiven Umgang mit der, häufig konflikthaften, Situation der Einwanderungsstadt. Aus diesen Versuchen und Erfahrungen stammen die nun andernorts eingesetzten Strategien (Welcome-Center, Willkommensbroschüren u.a.). Anders als in Chemnitz ist in diesen Städten Migration jedoch selbstverständlicher Teil der Stadt- und Zivilgesellschaft geworden. Und genau hier liegt der Unterschied: Städte, die alle möglichen Sorten von Migration und Mobilität anziehen, die sich mit den Neuankömmlingen befassen und migrantische, transnationale Praxen einbeziehen, sind heute auch die, die besonders stark wachsen. Im besten Fall wird die gelebte Zuwanderung Teil von Urbanität und Lebendigkeit. All das braucht Zeit und Offenheit auf der Planungsseite und bei der Zivilgesellschaft. Dann bleiben auch die Frauen.
Download der Studie von Prof. Dr. Felicitas Hillmann: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/kulturelle-vielfalt-in-staedten/