Eine digitale Kommunikationsplattform wird die EU nicht retten
Der Autor Michael Bröning leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.
In der aktuellen Krise der europäischen Integration plädiert der Berliner Kommunikationsberater Johannes Hillje für die Gründung einer „Plattform Europa“ als digitale Grundlage einer europäischen Demokratie. Dafür erhält er derzeit eifrige Zustimmung und zwar nicht nur von den Teilen der Bevölkerung, die im vergangenen Sommer die gentrifizierten Stadtviertel europäischer Metropolen, mit blau bemalten Gesichtern und in Europaflaggen gehüllt, bevölkerten. Auch der Spitzenkandidat der Grünen, Sven Giegold, hat angekündigt, die Einrichtung der Plattform bei der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten zur Bedingung für seine Unterstützung zu machen. Doch so sympathisch derlei Vorschläge zunächst erscheinen mögen, so sehr lenken sie von den eigentlichen Problemen der europäischen Integration ab. Im Resultat dürften sie Polarisierung und toxisches Lagerdenken sogar eher vertiefen als reduzieren.
Ausgangspunkt der von Johannes Hillje vorgeschlagenen Plattform ist – wie nicht anders zu erwarten – der „desinformierte Wählerwille“ der Bürgerinnen und Bürger Europas. Die Ursache: die nationalen Öffentlichkeiten seien „zu Resonanzräumen für Populismus und Nationalismus geworden“. In der Folge werde „jeder noch so logische nächste Schritt“ zur Vertiefung der europäischen Integration – wie etwa die Einrichtung eines Euro-Finanzministers – von nationalen Filtern aus „Ängsten, Vorurteilen und Selbstbezug“ verhindert. Ganz klar: Wo die Einsicht nicht ausreicht, wird es Zeit für einen verantwortungsbewussten Erziehungsberechtigten, der die rückwärtsgewandten nationalen Blasen durch eine zentrale europäische Kommunikation ersetzt. Dort kann der alternativlose Kurs der „logischen“ Integrationsvertiefung dann endlich ungetrübt von egoistischer Verstocktheit medial verlässlich begleitet werden. Denn, so formuliert Hillje apodiktisch: „Es muss eine europäische Öffentlichkeit geben oder es wird die Europäische Union nicht mehr geben“.
Nationale Perspektiven sind kein Provinzialismus
In manchen Punkten hat Hillje durchaus Recht. Das europäische Demokratiedefizit beruht zum großen Teil auf der Abwesenheit eines europäischen Demos, der die Integration des Kontinents tragen und legitimieren kann. Doch der Autor übersieht, dass nationale und demokratische Öffentlichkeiten von den Bürgerinnen und Bürgern Europas ganz bewusst gepflegt und wertgeschätzt werden und dass diese Vielzahl nationaler Perspektiven eben keinen zu überwindenden Provinzialismus darstellt, sondern gelebten politischen Pluralismus.
Ein Problem damit hat Hillje augenscheinlich nur, weil ihm die Ausrichtung dieser Diskurse nicht passt. Zwar plädiert er für die „Unabhängigkeit der Inhalte“ seiner „postnationalen und postkapitalistischen“ Plattform. Doch an echter Zieloffenheit einer „paneuropäischen Debatte“ hat seine Plattform nicht das geringste Interesse. Das zeigt sich an den kritischen Stimmen, die der Autor beispielhaft für zulässig erklärt: Kritik etwa an der „mangelnden sozialen Dimension der Europäischen Union“ ist für Hillje gerade noch statthaft. Was für ein Zufall, dass die nur durch weitere Integrationsschritte behoben werden kann.
Didaktische Bevormundung und ideologischer Bias
Mit einer solchen Kombination aus didaktischer Bevormundung und ideologischer Verzerrung aber dürfte die Plattform die Polarisierung zwischen den politischen Lagern nicht reduzieren, sondern nur noch vertiefen. Für die vermeintlich gute Sache ist der Autor dabei durchaus bereit, Mindeststandards der Staatsskepsis, denen er sich andernorts sicher verpflichtet fühlt, zu ignorieren. So fällt ihm offenbar gar nicht auf, wie gruselig der oben zitierte Satz zur Alternativlosigkeit der „europäischen Öffentlichkeit“ klingt, wenn das Wort „europäisch“ durch „deutsch“ ersetzt würde.
Ziel der vorgeschlagenen „digitalen Plattform in öffentlicher Hand“ ist eine Domestizierung des „zu einer Gefahr für die Demokratie gewordenen“ Internets durch eine europäische politische Intervention. Sicher, die destruktiven Auswirkungen von Fake News, Filterblasen und Echokammern ist real und verlangt nach einer überzeugenden gesellschaftlichen Antwort. Aber ist nicht die staatlich geförderte „Institutionalisierung“ freier Kommunikationskanäle, auf der Grundlage reichlich schwammiger „Werte“ im Sinne des „Gemeinwohls“, mindestens ebenso fragwürdig?
Nicht mehr Agitation, sondern mehr Meinungsfreiheit
Der Autor beklagt zu Recht, dass „illiberale Regierungen nationale Medien und Kulturinstitute in rasendem Tempo zu Propagandaorganen umbauen“. Doch eine überzeugende Antwort auf Propaganda lautet nicht „mehr Agitation“, sondern ein Mehr an Meinungsfreiheit in einer von staatlicher Bevormundung unbehelligten Debatte. Davon aber kann in Hilljes Konzept nicht die Rede sein. In seiner Plattform, diesem „Meilenstein für die europäische Öffentlichkeit“, sorgt ein „europäischer Newsroom für einen paneuropäischen Diskurs über europäische Themen“. Sprachbarrieren sollen dabei kurzum durch KI-Übersetzungen in Echtzeit überwunden werden.
Die eingesetzten Algorithmen der Seiten aber würden zugleich pädagogisch bewerten und gewichten. Sie sollen schließlich „nicht jene belohnen, die Hass oder Hetze verbreiten“, sondern „gesellschaftliche Relevanz“ fördern. Gibt es einen windelweicheren Begriff zur Abwehr unliebsamer Inhalte?
Skepsis gegenüber staatlichen Wachhunden
Doch es geht nicht nur um Unterhaltung und Information, sondern auch um das, was unterdrückt werden soll. Hillje hofft, durch die staatlich alimentierte Plattform werde die europäische Demokratie endlich „einen Wachhund bekommen“. „Einen mächtigen europäischen Player“, der die Aufgabe hätte, „Desinformation oder Hate Speech als zu sanktionierende Verstöße gegen den rechtlichen und normativen Rahmen“ der Europäischen Union zu ahnden. „Entschiedenes politisches Handeln“ sei hier gefordert. Wäre es nicht eher Zeit für entschiedene politische Skepsis, wenn „mächtige staatliche Wachhunde“ auf dem Meinungsmarkt für Ordnung sorgen sollen?
Johannes Hillje ist ein überzeugter Europäer und Demokrat. Er versteht seine Plattform nur als zusätzliches Angebot und sein Bemühen um eine Absicherung der europäischen Einigung verdient Anerkennung. Sein Vorschlag zur „Plattform Europa“ aber ist kein Teil der Lösung, sondern illustriert einen Teil des Problems. Wenn die Titanic einen Eisberg rammt, geht es nicht darum, die Vernetzung der 1. Klasse Passagiere voranzutreiben und auf dem Sonnendeck das Orchester lauter spielen zu lassen. Der von Hillje ins Spiel gebrachte „55-Jährige Handwerker aus Kalabrien“, dessen positives Europabild er so dringend befördern will, hat derzeit möglicherweise akutere Probleme, als die Frage, wie er sich besser „mit dem Ideal eines vereinten Europas identifizieren“ kann. Im Resultat blieben Johannes Hillje und ein bereits überzeugtes europafreundliches Milieu auf ihrer Plattform weitgehend unter sich.
Soziokulturellen Spaltung begegnen
Die anhaltende Krise der europäischen Integration ist eben in erster Linie keine Krise der Kommunikation, die mit überzeugenderen Frames oder pädagogisch wertvollen Aufklärungskampagnen bewältigt werden kann. Es geht vielmehr um sehr reale Löcher im Rumpf des Schiffes, die den Feinden Europas in die Hände spielen. Um diese zu stopfen, gilt es, den konkreten Problemen einer wachsenden ökonomischen und soziokulturellen Spaltung durch kluge und pragmatische Lösungen zu begegnen - bevor es zu spät ist. Hierbei aber wird Johannes Hilljes Vorschlag eines digitalen Netzwerks kaum einen Beitrag leisten können.