Ein Feminismus für alle
Gesine Agena ist stellvertretende Bundesvorsitzende und frauenpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen. Ulle Schauws ist Bundestagsabgeordnete und ebenfalls frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion.
Aktuell findet diesseits und jenseits der feministischen Bewegung eine intensive Diskussion über die vermeintlich „richtige“ Ausrichtung von Feminismus statt. Auch bei uns Grünen gibt es diese Auseinandersetzung.
Zugespitzt geht es um die Frage, wie weit wir Frauen zugestehen, selbstbestimmt zu leben, vor allem, wenn ihre Lebensweisen nicht unseren persönlichen und feministischen Ansichten und Erfahrungen entsprechen. Oft entzündet sich diese Debatte an der Frage, ob eine Frau selbstbestimmt ein Kopftuch tragen kann. Mit diesem Beitrag möchten wir hierzu eine grüne Positionierung vornehmen. Wie muss also ein moderner zeitgenössischer Feminismus unserer Meinung nach aussehen?
Unsere Gesellschaft ist vielfältig. Menschen mit ganz unterschiedlichen Religionen, Geschichten und Prägungen leben hier zusammen. Zeitgenössischer Feminismus ist einer, der diese Verschiedenheit anerkennt, wertschätzt und sich damit natürlich auch kritisch auseinandersetzt. Nicht zukunftsweisend ist dagegen eine Haltung, die Vielfalt als Problem wahrnimmt und Vorurteile reproduziert.
Feminismus muss andere Diskriminierungsformen einbeziehen
Unser Feminismus akzeptiert, dass Menschen unterschiedlich sind. Und dass es mehr Diskriminierungen gibt als nur die aufgrund des Geschlechts. Die Welt teilt sich nicht nur in Männer und Frauen. Menschen werden auch aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Religion, Behinderung, sexueller Identität oder sozialer Klasse diskriminiert. Und Feministinnen müssen auch diese Diskriminierungen bekämpfen.
Deswegen ist für uns das Konzept des intersektionalen Feminismus ein wichtiger Ansatzpunkt. Der Begriff „intersektional“ wurde von Kimberlé Crenshaw geprägt und bedeutet so viel wie Kreuzung oder Überschneidung. Gemeint sind sich kreuzende Formen der Diskriminierung, oft auch „Mehrfachdiskriminierung“ genannt.
Intersektionaler Feminismus ist ein Feminismus, der den Blick weitet und nicht nur die Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern bekämpft, sondern andere Diskriminierungsformen einbezieht. Ein kraftvoller Feminismus, der es schafft, dass sich verschiedene Frauen in ihrem jeweils individuellen Emanzipationsstreben solidarisch unterstützen und Seite an Seite füreinander einstehen können.
Feministinnen müssen gegen jede patriarchale Gewalt aufstehen
Gleichzeitig wissen wir, dass es nach wie vor strukturelle Diskriminierungen gibt, die alle Frauen betreffen, einfach weil sie Frauen sind. Diese Strukturen gemeinsam und nicht in Abgrenzung zueinander zu bekämpfen, das macht Frauen stärker – alle Frauen. Darum geht es uns.
Was heißt das konkret für die „heißen Eisen“ des Feminismus? Intersektionaler Feminismus, das bedeutet für uns nicht, dass patriarchale Strukturen nicht mehr kritisiert werden. Im Gegenteil: Was für ein Frauenbild wird in unterschiedlichen Religionen propagiert? Wo werden kulturelle Werte und Ordnungsstrukturen, die patriarchal geprägt sind, unkritisch hingenommen? Diese Fragen müssen wir stellen.
Für uns ist klar: Keine Ideologie, keine Religion, keine Kultur kann rechtfertigen, die Würde, die Selbstbestimmung und die Rechte von Frauen einzuschränken. Wo immer das dennoch passiert, müssen wir das kritisieren. Wer immer das dennoch versucht, dem müssen wir uns entgegenstellen. Egal ob patriarchale Gewalt von weißen Deutschen oder von Männern mit Migrationsgeschichte oder von Muslimen oder von Atheisten ausgeübt wird, Feministinnen müssen dagegen aufstehen.
Auch Kopftuchträgerinnen können Feministinnen sein
Genauso klar ist für uns, dass Feminismus niemals die Rechtfertigung dafür sein kann, Frauen zu entmündigen. Selbstbestimmungsrechte gelten für jede Frau – egal, zu welchen Gruppen sie sich zugehörig fühlt. Jede Frau hat das Recht, über sich, ihren Körper und ihre Kleidung selbst zu entscheiden. Zugespitzt: Kein Mann darf einer Frau ein Kopftuch aufzwingen, keine Mehrheit darf ihr das Kopftuch herunterreißen. Und deswegen finden wir auch: Feministinnen haben nicht das Recht, Kopftuchträgerinnen pauschal abzusprechen, gleichzeitig selbstbestimmte, feministische Frauen sein zu können.
Ein intersektionaler Feminismus übersieht nicht, dass wir es gesamtgesellschaftlich mit einem gefährlichen Rechtsruck zu tun haben, der sich nicht nur, aber insbesondere gegen den Islam und hier lebende Muslim*innen richtet. Das ist umso wichtiger, weil rechte Kräfte ganz gezielt vermeintlich Frauenrechte als Treibmittel für ihren Populismus missbrauchen. Da werden Frauenmärsche organisiert, an denen überwiegend Männer teilnehmen. Mordfälle an Frauen und sexuelle Übergriffe, die niemals entschuldigt werden dürfen, egal wer sie begeht, werden missbraucht, um Menschen gegeneinander aufzuwiegeln und um gegen Geflüchtete und Migrant*innen zu hetzen.
Diese gezielte Methode der Rechten hat konkrete und brutale Auswirkungen auf Frauen, auch auf Musliminnen. Statt Frauen zu schützen, wie es die Kampagnen der Rechten suggerieren, werden sie als Propaganda-Mittel für eigene Zwecke benutzt. Die hasserfüllte Stimmung, die dadurch erzeugt wird, führt dazu, dass Musliminnen auf offener Straße beleidigt und immer öfter sogar tätlich angegriffen werden, indem ihnen zum Beispiel das Kopftuch heruntergerissen wird.
Gegen härtere Konfrontation nur mit dem Islam
Für uns als grüne Frauenpolitikerinnen ist es selbstverständlich, uns solidarisch an die Seite dieser Frauen zu stellen. Denn dass Frauen Frauen stärken, ist ein wesentlicher Bestandteil von Feminismus. Wir stellen uns gegen eine einseitige und härtere Konfrontation nur mit dem Islam, wie sie von einigen Feministinnen eingefordert wird, weil das gefährlich ist. Denn sie kann den Rechten in die Hände spielen und damit die Situation von Frauen verschlimmern. Die Pauschalverurteilung ganzer Bevölkerungsgruppen verbietet sich für unsere Idee von Feminismus ebenso wie die Stimmungsmache gegen einzelne muslimische Feministinnen wie beispielsweise die deutsch-türkische Bloggerin Kübra Gümüsay.
Gerade in Zeiten des Rechtsrucks treten wir für einen Feminismus ein, der alle Frauen meint. Für einen Feminismus, der solidarisch ist. Gerade in diesen Zeiten muss Feminismus Position beziehen – für Offenheit und Vielfalt.