Die amtliche Polizeistatistik zum Antisemitismus muss überarbeitet werden
Deidre Berger ist Direktorin des Berliner Büros des American Jewish Committee, Fabian Weißbarth ist seit Oktober 2012 der Public Affairs Coordinator des Büros.
Nach der antisemitischen Prügelattacke im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ist erneut eine Debatte über Antisemitismus aus der der muslimischen Gemeinschaft entbrannt. Für die jüdische Gemeinschaft sind diese Erfahrungen Alltag: Die Täter haben nach Einschätzung der Betroffenen meistens einen Migrationshintergrund.
Dagegen steht die offizielle Antisemitismus-Statistik, welche die Vielzahl antisemitischer Vorfälle (vier an einem Tag!) fast ausschließlich dem Rechtsextremismus zuordnet. 95 Prozent aller Delikte seien „politisch motiviert rechts“, so die Annahme. Dies führt in öffentlichen Debatten zum Thema Antisemitismus zumeist zu einem Zerrbild, das die Perspektive der Betroffenen nur unzureichend widerspiegelt.
In der öffentlichen Debatte um Antisemitismus gibt es ein Zerrbild.
Wie wir wissen, wird der Antisemitismus in der offiziellen Kriminalitätsstatistik eindimensional erfasst. Das Kategorie-Schema, in der zumeist nach „rechts“ und „links“ unterschieden wird, ist unzureichend, um die verschiedenen Facetten des Antisemitismus erfassen zu können. Eine Parole wie „Juden raus“ wird in dieser Betrachtung fast ausschließlich dem Rechtsextremismus zugeordnet, obgleich man über die Hintergründe nur wenig weiß. Auch andere Vorfälle mit NS-Bezug sind in der Statistik meistens „rechts“. Das führt selbst dazu, dass in der Vergangenheit ein Hitlergruß von Hisbollah-Anhängern auf der islamistischen Al-Quds-Demo als rechtsextrem eingruppiert wurde.
Laut einer Studie gaben 80 Prozent der körperlich angegriffenen Juden an, der Täter sei mutmaßlich Muslim.
Kein Wunder, dass in politischen Debatten nicht selten eine Schieflage eintritt. Antisemitismus in muslimischen Kreisen werde nur künstlich aufgebauscht, um vom Judenhass der Mehrheitsgesellschaft abzulenken, heißt es da oftmals. Fakt ist, dass es in der deutschen Gesellschaft, quer durch alle politischen Lager und Milieus, antisemitische Vorurteile gibt. Fakt sind aber auch die Erfahrungen der jüdischen Betroffenen. Nach einer Studie von Dr. Julia Bernstein, die im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus durchgeführt wurde, gaben 80 Prozent derer, die körperlich angegriffen wurden an, dass die Täter einen mutmaßlich muslimischen Hintergrund haben.
Es braucht eine Überarbeitung der offiziellen Polizeistatistik zu antisemitischen Übergriffen.
Verweise auf allgemeinen Vorurteile laufen da ins Leere, wenn man sich dieser Wirklichkeit nicht stärker stellt. Es braucht daher dringend eine Überarbeitung der offiziellen Polizeistatistik. Erfreulicherweise wird dies vom neuen Beauftragten gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein, als dringliche Herausforderung angesehen.
Wie es anders gehen kann, zeigt zum Beispiel der jüngste Bericht über „Antisemitische Vorfälle 2017“ der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), der stärker differenziert und die weit verbreiteten Stereotypen, Verschwörungstheorien und antisemitischen Ideologien in verschiedenen Teilen der Gesellschaft Rechnung trägt. Mit solchen Informationen kann man besser gezieltere und nachhaltigere Präventionskonzepte entwickeln. Denn: Wer Antisemitismus ernsthaft bekämpfen will, braucht ein ehrliches Lagebild, welches auch den Erfahrungen der Betroffenen Rechnung trägt.