Globalwohl ist kein Argument
Vor etwas mehr als einem Monat bin ich mit Außenminister Heiko Maas nach New York, Toronto und in die kanadische Arktis gereist. Dabei hatte ich viele Gelegenheiten für direkten Austausch mit dem Minister und seinem Team. Der internationale Handel war eines von etlichen Themen, die wir debattiert haben.
In dieser Woche habe ich außerdem eine Festrede zum Handelsmultilateralismus gehalten und mich im Anschluss mit Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner darüber unterhalten. Es freut mich persönlich sehr, dass deutsche Spitzenpolitiker dem Feld der internationalen Handelspolitik mittlerweile vermehrt Aufmerksamkeit schenken. Das ist notwendig, denn der Handelsmultilateralismus steht gravierenden Herausforderungen gegenüber.
Die Handelskriege des amerikanischen Präsidenten Donald Trump sind nur die drastischste Ausprägung. Im März 2017 erklärte Trump auf Twitter: „Handelskriege sind gut und einfach zu gewinnen.“ Seitdem hat er gegenüber verschiedenen Partnern unilateral die Handelszölle erhöht, die Ernennung von Richtern in das Schiedsgericht der Welthandelsorganisation (WTO) blockiert, die Organisation als den „schlechtesten Handelsdeal aller Zeiten“ verunglimpft und damit gedroht, aus der WTO auszutreten.
Einst waren die USA die Haupttriebkraft bei der Schaffung der internationalen Wirtschaftsordnung in den Nachkriegsjahren und bewahrten sie über die Dekaden. Wenn die Vereinigten Staaten sich nun gegen das multilaterale Handelssystem wenden, dann ist das ein deutliches Anzeichen für massive Schwierigkeiten.
Schon Obama setzte auf regionale Abkommen
Donald Trump ist weder Ursache noch Beginn dieser Entwicklung. Schon unter Präsident Barack Obama stellten die USA die Abläufe innerhalb der WTO infrage. Mit dem US-Europäischen Handelsabkommen TTIP (das am Ende nicht zustande kam) und dem Transpazifischen Handelsabkommen (das fertig verhandelt war, aus dem Trump aber wieder ausstieg) setzte Obama auf Verträge außerhalb der WTO und erzeugte dadurch ein neues Momentum vom weltumspannenden Multilateralismus hin zu regionalen Abkommen.
Zudem leidet die WTO längst nicht nur an der Abkehr der USA unter Donald Trump. Es grassiert schon seit einiger Zeit allseits Unzufriedenheit unter den Mitgliedern des Systems, die sich etwa in den quälenden Pattsituationen und Blockaden der Doha-Verhandlungen manifestiert. Längst wäre es an der Zeit gewesen, das leckgeschlagene Schiff des Handelsmultilateralismus zu bergen und wieder flottzumachen. Es ist wirklich bedauerlich, dass wir einen Trump-Schock brauchten, um der Problematik jene Aufmerksamkeit zu widmen, nach der sie schon lange verlangte.
Das Engagement der Entscheidungsträger geht nun glücklicherweise endlich über leere Versprechungen hinaus. Bislang war es üblich, mit großer Geste zuzusagen, dass man Protektionismus vermeiden und Handelsregeln aufrechterhalten wolle - nur um diese Versprechen dann wiederholt zu brechen. Heute haben Europa und nicht zuletzt Deutschland mit eigenen Vorschlägen eine Vorreiterrolle für eine Reform der WTO übernommen. Sie stehen damit nicht allein da: Verschiedene Mitglieder der Organisation bringen Reformideen ein. Zu den jüngsten und interessantesten Initiativen zählt die Vereinbarung zwischen der EU und Kanada, eine Übergangsregelung für Schlichtungs- und Berufungsverfahren zu etablieren, die auf bestehenden WTO-Regeln basiert. Vorgesehen ist, dass auch andere Länder dieser Vereinbarung beitreten können, was angesichts der aktuellen Lähmung des WTO-eigenen Schlichtungssystems für die Streitbeilegung wichtig sein wird. Solche Bemühungen, im internationalen System Verlässlichkeit zu fördern und offene und faire Märkte zu stärken, verdienen Anerkennung. Allerdings haben diese Ansätze zwei grundsätzliche Haken.
WTO-Reformen reichen nicht. Es geht auch um Erzählungen
Erstens sind viele der Vorschläge für eine Reform der WTO zwar inhaltlich und in den technischen Details solide. Aber die Bedrohungen des Handelsmultilateralismus leiten sich nicht aus technischen Unzulänglichkeiten ab. Weltweit scheinen einfach zu viele Menschen der populistischen und nationalistischen Erzählung Glauben zu schenken, dass ihnen vom Multilateralismus übel mitgespielt wurde. Man wird die Wähler der Populisten wohl kaum mit einem entzückenden neuen Streitschlichtungsverfahren, dieser Parallel-WTO, zurückgewinnen. Es wird ihnen auch nicht helfen, wenn sie aufgefordert werden, den Planeten an die erste Stelle zu setzen, statt ihre eigene Nation. Wenn überhaupt, wird das die Ablehnung derer, die vermehrt als „globale Elite“ gesehen werden, weiter verstärken und die Abwehr der Werte des Internationalismus, den sie vertreten, verschärfen. Das Resultat dieser Hybris lautet: „Nur Herr Trump versteht meinen Schmerz, nur die AfD ist bereit, sich für meine Rechte einzusetzen.“ Die vielen Unzufriedenen können nur an Bord geholt werden (und an Bord holen müssen wir sie, wollen wir das Vertrauen in das System wiederherstellen), wenn ihre Sorgen ernst genommen werden, und wenn wir eine Gegen-Story aufbauen.
Diese Erzählung müsste klar aufzeigen, warum ein reformierter Handelsmultilateralismus ihnen direkt zugutekommt. Da helfen keine moralistischen Appelle für das Globalwohl und selbst statistische Belege und perfekte technische Lösungen werden nicht ausreichen. Diese Erzählung muss Anziehungskraft auf Einzelne und Gruppen ausüben können (mehr dazu, wie überzeugende Narrative geschaffen werden, bald in meinem nächsten Buch!).
Die Verflechtungen als Waffe
Zweitens ignorieren diejenigen, die auf technische Lösungen setzen, das Trampeltier im Porzellanladen. Trotz der Hysterie liberaler Kreise (deren Kritik am Trumpismus ich generell teile), ist dieses Trampeltier nicht Trump, sondern China. Henry Farrell von der George Washington Universität und Abe Newman von der Georgetown Universität haben kürzlich in einem Aufsatz den Begriff der „Weaponized Interdependence“ geprägt - der zur Waffe gewordenen Verflechtung der Welt. Sie zeigen, wie die gegenseitige Abhängigkeit in globalen Wirtschaftsnetzwerken als waffenähnliches Instrument für geostrategische Zwecke eingesetzt wird. Mit Blick auf den kometenhaften Aufstieg und die expansive Geopolitik Chinas wird klar: Politisches Silodenken, also Reformvorschläge isoliert auf das Thema „Handel“ zu beziehen, wird nicht funktionieren. Solange multilaterale Regeln von „Systemrivalen“ dazu genutzt werden, geoökonomische Vorteile zu erlangen, müssen sich Politiker und Wissenschaftler den größeren Wertefragen annehmen.
Kanada und Deutschland bringen beispielsweise Arbeits- und Umweltstandards in die internationale Diskussion um Handelsfragen ein. Aber das geht in die falsche Richtung und greift auch zu kurz. Denn es finden möglicherweise bereits Veränderungen auf einer fundamentaleren Ebene statt, eine „Entkopplung“ von Werten ersten Grades - wie Demokratie, Menschenrechte, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit usw. Es kommt die Zeit, in der wir die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den westlichen Ländern und China bei diesen Belangen nicht mehr unter den Teppich hohler Phrasen über gemeinsame Interessen und die Liebe zur Globalisierung kehren können. Es gibt andere Schlüsselakteure wie Indien und Japan, die wenigstens über Chinas Seidenstraße und die Expansion durch das „Perlenketten-Projekt“ so alarmiert sind, wie es Europa sein sollte. In anderen Worten, es gibt viele potenzielle Verbündete, an die sich Europa wenden kann. Ein reformiertes Handelssystem könnte China durchaus weiterhin einschließen, insbesondere wenn strengere Regeln gegen den Missbrauch des Systems eingeführt würden. Aber da Handel und Sicherheit nicht mehr getrennt voneinander auftreten, ist es schwer vorstellbar, wie wir zu einem umfassenden - universellen und ambitionierten - Multilateralismus zurückkehren können, solange wir keine eindeutigen Signale erhalten, dass unsere unmittelbaren Konkurrenten auch bereit sind, ihre eigene Macht zu zügeln.