Komplexes System : Verzicht ist nicht die Lösung

Die Antwort auf die Frage: „Wie hältst du’s mit dem Fliegen?“, wird zunehmend zum Indikator moralischer Integrität. Die Gretchenfrage 2.0. Flugscham, das schlechte Gewissen, ein Flugzeug zu betreten oder im Bekanntenkreis davon zu erzählen, befällt immer mehr Menschen. Eine neue soziale Norm entsteht. War eine Flugreise vor einigen Jahrzehnten noch Statussymbol, wurde sie erst zur Massenware und dann zum Schandfleck auf der grünen Weste. Sind Flüge wirklich so schlecht wie ihr Ruf und ist Verzicht der richtige Weg? Flugzeuge produzieren neben CO2 weitere Gase, die in großen Höhen besonders schädlich sind.
Auf den ersten Blick ist ein Langstreckenflug wohl die klimaschädlichste Konsumentscheidung, die man als Normalsterblicher trifft. Ein bis zwei Tonnen CO2 fallen an, wenn man an die Westküste der USA oder nach Fernost fliegt. Zum Vergleich: ein durchschnittlicher Europäer verursachte 2017 etwa 7,2 Tonnen CO2, und um die Klimaziele zu erreichen, muss der Wert bis Mitte des Jahrhunderts auf eine Tonne oder weniger sinken. Hinzu kommen weitere Gase, deren Ausstoß in großen Höhen besonders klimaschädlich ist und in der Wirkung mindestens dem CO2-Ausstoß des Fluges entspricht. Flugscham kann ein Wirkung entfalten, aber nur innerhalb bestimmter Gruppen - die zu klein sind, um relevant zu sein.
Sollen die in Paris vereinbarten Klimaziele erreicht werden, muss die Anzahl der Flugreisen deutlich sinken anstatt - wie bisher - zuzunehmen. Würden wir alle einfach nicht mehr fliegen, hätte sich das Thema erledigt. Die Knackpunkte sind das ‚alle‘ und das ‚einfach‘. Freiwilliger Verzicht ist genau das: freiwillig. Soziale Normen und individuell empfundene Scham können zwar große Wirkung entfalten, insbesondere innerhalb bestimmter Gruppen, aber dass sie in der Lage sind, den Wachstumstrend bei Flugreisen umzukehren, ist unwahrscheinlich – und dann bliebe ja immer noch die Luftfracht. Denn wenn man schon selbst nicht nach Indien reist, so soll doch wenigstens der online bestellte, fair gehandelte und biologisch angebaute Grüntee möglichst übermorgen geliefert werden. Fliegen ist billig, die Versuchung groß.
Einfach ist der Verzicht ebenfalls nicht. Es gibt viele ‚gute‘ Gründe, warum man in ein Flugzeug steigt: Geschäftsreisen, Verwandte im Ausland, Fernbeziehungen und die Völkerverständigung (manche nennen es auch Urlaub). Zudem war Fliegen noch nie so billig und wir waren noch nie so reich, die Versuchung war noch nie so groß. EU-Flüge sind Teil des Emissionshandelssystems, das Klimaschutz als Ziel hat.
Zudem stellt sich die Frage, welche Wirkung der individuelle Verzicht auf die insgesamt emittierte Menge an Treibhausgasen hat. Selbst wenn man sich nicht davon abschrecken lässt, dass der eigene Beitrag zum Klimaschutz nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, bleibt die Tatsache, dass innereuropäische Flüge Teil des EU Emissionshandelssystems sind. Das heißt, Fluggesellschaften müssen für jede ausgestoßene Tonne CO2 ein Zertifikat abgeben. Da die Menge an Zertifikaten begrenzt und insgesamt knapp ist, gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen der Anzahl der durchgeführten Flüge und den CO2-Emissionen in der EU. Wird ein Flug gestrichen, werden die Zertifikate meist an anderer Stelle eingesetzt.Ab 2021 gilt für Interkontinentalflüge eine Kompensationspflicht, die freiwilligen Verzicht bedeutungslos macht.
Für Interkontinentalflüge sind Fluggesellschaften ab 2021 verpflichtet, alle CO2-Emissionen, die über dem Durchschnitt von 2019 und 2020 liegen durch Projekte, in denen CO2 vermieden wird, zu kompensieren. Zumindest wenn diese Kompensationsmechanismen funktionieren, dann entstehen durch Flugreisen zwar immer noch bedeutende Mengen CO2 (auf dem Niveau von 2020), aber der freiwillige Verzicht hätte keinen Einfluss mehr auf die Gesamtemissionen – es sei denn diese fallen wieder unter den Wert von 2020.Die Regulierungen sorgen dafür, das Fliegen teuer wird und weniger attraktiv.
Beide Regulierungen haben folgendes gemeinsam: Einerseits sorgen sie dafür, dass Fluggesellschaften und damit auch Passagiere, einen Preis für den Ausstoß von CO2 bezahlen. Das macht Fliegen teurer und damit weniger attraktiv. Wie stark, hängt in erster Linie vom Preis für CO2-Zertifikate bzw. Kompensationsprojekte ab. Andererseits heben sie die Emissionswirkung von freiwilligem Verzicht auf. Die Menge an CO2-Emissionen wird unabhängig davon, wie viel wir fliegen. Was bleibt sind die Klimaeffekte des Fliegens, die nicht direkt durch CO2-Emissionen verursacht werden. Verzicht hilft dem Klima also – aber weniger als ohne diese Regulierungen.Fluggesellschaften könnten mit Angeboten locken, um den Durchschnittswert hochzutreiben.
Eine Ausnahme sind Flüge in Nicht-EU Länder in 2019 und 2020. Diese dienen als Basisjahr für den ab 2021 eingeführten Kompensationsmechanismus. Je niedriger die Emissionen in diesen beiden Jahren, desto mehr müssen die Fluggesellschaften in den kommenden Jahren kompensieren. Es könnte sein, dass die Fluggesellschaften in diesem Zeitraum besonders attraktive Angebote machen, da sie ab 2021 umso mehr sparen, je höher die Emissionen in den Basisjahren sind.Wer was fürs Klima tun will, kann für Kompensationsprojekte spenden.
Wie kann man also einen Beitrag zum Klimaschutz leisten? Neben dem Verzicht kann man durch Flüge verursachte Emissionen auch privat kompensieren und sich politisch engagieren. Kompensation ist nichts anderes als eine Spende für Projekte, die an anderer Stelle Treibhausgasemissionen verhindern oder CO2 der Atmosphäre entziehen und die ohne diese Spende nicht durchgeführt würden. Für den Klimawandel ist es egal, wo und wie CO2-Emissionen entstehen. Verursacht man an einer Stelle Emissionen und damit eine gewisse zusätzliche Erwärmung, kann dies ausgeglichen werden, wenn an anderer Stelle Emissionen verhindert oder der Atmosphäre entzogen werden.Das Geld kann man auch spenden, wenn man nicht fliegt.
Einen Baum an der richtigen Stelle zu pflanzen, wachsen zu lassen und ihn danach nicht zu verbrennen, erzeugt zum Beispiel solche ‚negativen Emissionen‘. Das Geld kann man aber auch spenden, wenn man nicht fliegt. Der Flug und die Spende sind zwei voneinander unabhängige Maßnahmen. Die eine macht die Welt wärmer, die andere kühler. Die Verknüpfung besteht allein in unserem Kopf bzw. Gewissen.Die Zusagen der Paris-Abkommen-Staaten reichen nicht, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen.
Politisches Engagement ist notwendig, um den Klimaschutz im Flugverkehr und anderswo zu verschärfen. Noch reicht die Summe der im Rahmen des Paris-Abkommens von Nationalstaaten gemachten Zusagen nicht aus, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen – von 1,5 Grad ganz zu schweigen. Klimapolitik wird aber nur ambitionierter, wenn sich viele Menschen dafür einsetzen. Um das Klima zu retten, bedarf es nicht nur engagierter Konsumentinnen, sondern insbesondere engagierter Bürger. Die Möglichkeiten sich einzubringen sind vielfältig. Oder um es mit Goethe zu sagen: Klimaschutz ist vor allem „Ein politisch' Lied“.