Gesellschaftsvertrag statt Leitkultur : Leitkultur verkommt zum Klischee des Deutschseins

"Was macht gesellschaftlichen Zusammenhalt aus? Wie verändert sich unsere Gesellschaft? Was kann von wem verlangt werden, wenn es um kulturelle Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt geht? Die 28 Vertreterinnen und Vertreter der Initiative kulturelle Integration haben diese Fragen monatelang diskutiert. Wenn sie am Dienstag ihre 15 Thesen öffentlich vorstellen, wird man einen ideologisch beladenen Kampfbegriff allerdings nicht darin finden: die Leitkultur. Und das ist ein Befreiungsschlag. Konkrete Leitkultur-Vorschläge verkommen zu lächerlichen Klischees übers Deutschsein
Deutschland ist vielfältig und das ist manchen zu kompliziert. Im Wechsel der Jahreszeiten wird deshalb eine Leitkultur eingefordert, die für Ordnung und Orientierung sorgen soll. Sobald diese Leitkultur aber inhaltlich gefüllt wird, gleitet die Debatte ins Lächerliche und Absurde, die Vorschläge verkommen zum Klischee des Deutschsein. Kein Wunder, denn eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar. Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt. Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten führen zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt. Kulturelle Vielfalt ist vielleicht anstrengend, macht aber die Stärke der Nation aus
Diese kulturelle Vielfalt ist auch anstrengend, aber sie macht die Stärke unserer Nation als eine offene Gesellschaft aus. Die Beschwörung einer Leitkultur schafft dagegen nicht Gemeinsamkeit, sondern grenzt aus. Sie gießt Öl ins Feuer, um sich selbst daran zu wärmen.
Die Verfassungsnormen des Grundgesetzes liefern den Ordnungsrahmen für das Zusammenleben der Bürger. Innerhalb dieses Rahmens haben wir die Grundfreiheiten, nach der eigenen Fasson glücklich zu werden. Da darf es keine Rolle spielen, wer was glaubt, liest, hört oder anzieht. Kulturelle Regeln sind nicht ohne Grund ungeschrieben. Sie unterliegen einem steten Wandel, einer permanenten Aushandlung. Fragen Sie mal Frauen, Mütter, Jugendliche, Homosexuelle oder Menschen mit Behinderungen, was sie von einer rechtlichen Konservierung einer Leitkultur der 1950er Jahre halten würden! Man kann Einwanderern keine Anpassung an eine Mehrheitskultur verordnen
Auch Einwanderern kann man keine Anpassung an eine vermeintlich tradierte Mehrheitskultur per se verordnen, noch unterstellen, dass sie Nachhilfeunterricht benötigen, weil sie außerhalb unseres Wertesystems stünden. Oder wollten wir ernsthaft behaupten, das Leistungsprinzip gebe es nur in Deutschland, nur wir sähen Bildung als Wert?
Hat unsere Verfassung also keine Erwartungen, keine Zumutungen an ihre Bürgerinnen und Bürger, eingewandert oder einheimisch? Doch, aber sie liefert uns kein kulturelles, sondern ein politisches Leitbild. Sie gibt eine politische Kultur vor, die allen zugänglich ist und zugemutet werden kann und muss. In diesem Sinn können und müssen sich natürlich auch Eingewanderte in die politische Kultur einleben, ein geschichtliches Verständnis von der neuen Heimat und deren Verfassungsprinzipien entwickeln, Respekt haben vor einer lebendigen Streitkultur, die auf Widerspruch, Meinungsvielfalt und Verständigung setzt.Wir brauchen einen Gesellschaftsvertrag auf Basis des Grundrechts
Natürlich bleibt die Frage, wie wir Vielfalt gestalten und ein gemeinsames Wir schaffen. Diese Frage betrifft alle, die hier leben. Mein Vorschlag: Ein Gesellschaftsvertrag mit den Werten des Grundgesetzes als Fundament und gleichen Chancen auf Teilhabe als Ziel. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat unter meinem Vorsitz und breiter gesellschaftlicher Beteiligung konkrete Vorschläge dafür gemacht: ein Einwanderungsgesetz mit klaren Regeln, interkulturelle Öffnung in allen Bereichen, faire Zugänge zu Ausbildung und Arbeitsmarkt für alle, Integrationskurse massiv ausbauen, Einbürgerungen erleichtern. Genauso erwarten wir aber auch von jeder und jedem die klar erkennbare Anstrengung, teilhaben zu wollen und sich einzubringen. So betrachtet müssen wir uns dann nicht über eine kulturelle, sondern über eine politische Handlungslinie verständigen. Damit wir unser gemeinsames Ziel erreichen, dass sich jeder und jede zugehörig fühlen kann, unabhängig von der Herkunft.