Leitkultur als politischer Kampfbegriff : Ein Spiel mit dem Feuer

Spätestens jetzt ist der Wahlkampf eröffnet, Innenminister Thomas de Maizière geht am rechten Rand auf Stimmenfang, Vehikel ist die Wiederbelebung eines Begriffs, der schon bei seiner Erfindung, während der ersten Debatte um den Doppelpass 1999/2000, an Unsinnigkeit kaum zu übertreffen war. Es geht also mal wieder um die sagenumwobene Leitkultur - kurioserweise immer dann, wenn sich Politiker nicht in der Lage sehen, den Wählern die komplexen Herausforderungen unserer Gesellschaft verständlich zu vermitteln. Also wählen sie den vermeintlich einfachen Weg, den Weg zurück zur Dichotomie des Eigenen und des Fremden, zurück zu einem Paradigma, dass eigentlich schon mit dem Kulturwandel im späten 19. Jahrhundert überwunden schien. Ein Paradigma, wonach Geschichte Johann Gottfried Herder zufolge planmäßig durch verschiedene Zeitalter, respektive Entwicklungsstufen hindurch muss, um schließlich zu einem Idealzustand zu gelangen. Geschichte, wie er 1774 schrieb, als „Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden!“ Unter diesem Paradigma könnte man den Satz de Maizières „Wir sind nicht Burka“ als richtig bezeichnen, viele Gesellschaften außerhalb Europas als rückständig, die Burka als anachronistisch. Es ist allerdings das Weltbild des Innenministers, das anachronistisch ist. Das Weltbild des Innenministers ist anachronistisch
Denn es ist nicht so, dass sich die verschiedenen Teile der Welt in unterschiedlichen Stadien eines allgemeingültigen Weltgeistes befänden. Alles findet jetzt statt und hat Auswirkungen auf jede Gesellschaft, fordert permanent gesellschaftliche Debatten und politische Entscheidungen. Mit der Wir-gegen-Die-Attitüde des Innenministers kommt man nicht weiter.
Schauen wir uns den Begriff Leitkultur etwas genauer an: Schön, dieser Begriff, nicht wahr? So deutsch: zusammengesetztes Hauptwort, hierarchisch, und Kultur kommt auch noch vor. Aber was bedeutet er? Wer den Begriff einfach nur als Bezeichnung für die hier vorherrschenden Sitten und Bräuche deutet, wie de Maizère, liegt völlig falsch. Der Begriff bezeichnet mehr als nur die vorherrschenden Sitten und Gebräuche
Auch würde jeder Soziologe oder Ethnologe fragend die Stirn runzeln. Eine Begriffsbildung wie diese ist nicht stichhaltig, sie beinhaltet sogar ein Paradox, denn Kultur ist ein dynamischer Prozess, der nie stillsteht. Er wird aus der Praxis heraus geboren, nicht verordnet. Kann er auch gar nicht, weil Kultur etwas durch und durch Heterogenes bezeichnet.
Ein Gedankenexperiment: Was kommt dabei heraus, wenn sie einen Oberbayern und einen Ostfriesen in eine Küche einsperren, in der sie nach Omas in hessischer Mundart verfasstem Rezept Haspel mit Grie Soß' zubereiten sollen? Lassen sie sich Zeit. Versuchen Sie Menschen zu finden, die diese Dialekte sprechen. Versuchen Sie sie erst einmal zu verstehen. Versuchen Sie, ihre Lebensumstände zu verstehen, ihre Traditionen, ihre Alltagsmythen. Dann vergleichen Sie die des Oberbayern und die des Ostfriesen. Dann recherchieren Sie genauso intensiv die Hessen im Raum Frankfurt. Wenn Sie das alles gemacht haben, versuchen Sie sich dieses Experiment vorzustellen? Na, kann es gelingen?Natürlich kann es, aber es ist viel Arbeit nötig. Arbeit an der Sprache, Arbeit am Verständnis der Lebensumstände, Arbeit an den Geschmacksknospen der Zunge. Es dauert und kann nur gelingen, wenn man aufeinander zugeht, sich zuhört, ein gemeinsames Ziel formuliert. So kann man auch das Thema Zuwanderung und Integration angehen.
Aber zurück zum Kulturbegriff: In dem Experiment sind alle vertretenen Gruppen Deutsche, jeder würde sich so bezeichnen, wenn er oder sie danach gefragt würde. Doch was, wenn man es genauer wissen will? Da kommt man vom Deutschen zum Norddeutschen, zum Ostfriesen, da unterscheidet sich der Wittmunder vom Borkumer, unterscheiden sich Stadtteile, Straßenzüge, Straßenseiten, Häuser, Wohnungen, Zimmer, Betten, bricht letztlich runter bis aufs Individuum und selbst das hat, wenn man Richard David Precht glauben darf, mehrere Identitäten.
Der Kulturwissenschaftler Klaus Hansen bietet dahingehend eine interessante Definition von Kultur. Die Kollektivität eines Volkes sei demnach hauptsächlich auf Angeboten oder Verhaltensvorgaben begründet, die zwar alle identisch seien, in ihrer Auswahl und Umsetzung aber zu Diversität führten. In einer globalisierten Welt sind diese Angebote und Verhaltensvorgaben aber nicht mehr in Landesgrenzen zu halten.Was die Menschen zusammenhält, ist die Vertrautheit der Verschiedenheit
Sie gehen längst darüber hinaus. Der Begriff Global Village ist viele Jahre alt. Was die Menschen laut Hansen zusammenhält, sei die Vertrautheit der Verschiedenheit, in ihr sei die Diversität aufgehoben, sie bezeichnet er als den Kitt einer Gesellschaft.
Wie ist dann der Begriff der Leitkultur zu verstehen? Gar nicht! Es gibt keine Entsprechung in der Realität. Leitkultur ist ein rein politischer Kampfbegriff, den politische Akteure nutzen, um Stimmen zu fangen, um Stimmung zu machen. Dabei birgt er ein gefährliches Moment, das Vorschub für rassistische Ressentiments leistet, denn es ist das Eigene, das verteidigt werden muss gegen den Angriff des Fremden. „Die haben sich hier gefälligst anzupassen“, hört man, egal wo man ist in Deutschland.Leitkultur ist ein politischer Kampfbegriff zur Stimmungsmache
Der Begriff spielt mit der Angst, dass die Fremden gekommen seien, um die deutsche Lebensweise zu vernichten. Eine Angst der Horrorszenarien von Parallelgesellschaften und Identitätsverlust. Ein gefährliches Spiel, in dem Rechts offenbar im Vorteil ist und mit kruden Begriffen wie Kulturkreise und christlich-jüdisch-abendländische Tradition argumentiert, wobei dann die Frage erlaubt sein muss, wieso wir eigentlich arabische Zahlen benutzen. Es geht sogar so weit, dass manche versuchen, den Begriff völkisch wieder salonfähig zu machen.
Nun, wer der Meinung ist, von Leitkultur hin zu völkisch sei der Weg lang und dazu konstruiert, da es angesichts der Flüchtlingswelle kein unbegründetes Anliegen sei, die eigene Kultur zu schützen, dem muss man entschieden entgegentreten und sagen: Nein, der Weg von Leitkultur zu völkisch ist kurz und direkt.Der Weg von "Leitkultur" zu "völkisch" ist kurz und direkt
Und fatal, denn wo die Leitkultur im Sinne der völkischen Gemeinschaft verteidigt wird, da sind die Horden von Schmarotzern und Untermenschen nicht weit. Wer sich einen Überblick verschaffen möchte, möge auf Facebook schauen, was zuhauf in den Kommentaren zu lesen ist. Dort verroht die Sprache zuerst, jeder wird zum Sender, ob als echte Person oder als aus dem Ausland gesteuerter Bot. In diesem Szenario heizt Thomas de Maizière mit seinem Gastbeitrag in der Bild am Sonntag die Stimmung an, sorgt dafür, dass sich die Schreihälse mit unzivilisierten Parolen überbieten, bis hin zu Morddrohungen, die in den sozialen Netzwerken leider keine Ausnahmen mehr sind.
Man wundert sich: Wo sind die Besonnenen? Wo sind die Philosophen? Wo sind die Anständigen? Wovor haben die Angst? Vor Wahlniederlagen, um ihre Popularität, um ihre körperliche Unversehrtheit? Letzteres ist nachvollziehbar, der Rest nicht. Unsere Intellektuellen sollten sich schämen, unsere Politiker, unter denen kaum noch ein Intellektueller zu finden ist, erst recht. Ihnen obliegt es in erster Linie, diesen Anachronismus aufzulösen, ihm die Stirn zu bieten. Ihnen schenkt man Gehör, auch in Zeiten von Facebook & Co. Vor allem sie tragen die Verantwortung, in dieser Debatte keine Märchen als wahre Drohszenarien aufzubauen, sondern konstruktive Ideen einzubringen. Das soll nicht heißen, dass alle anderen nicht mehr für unsere freiheitliche, pluralistische Gesellschaft zu kämpfen brauchen. Jedes Gespräch, in dem Skeptiker davon überzeugt werden können, dass es sich lohnt, für eine offene Gesellschaft einzustehen, ist wichtig.
Wie das gelingen soll? Als erstes müssen wir uns von der Angst frei machen, niedergebrüllt, entliked und angefeindet zu werden – beharrlich und mit der Kraft der Argumente. Wir müssen anderen die Angst vor den Prophezeiungen der Rechten nehmen, die gänzlich in das Land der Spukgeschichten gehören.
Wenn wir es schaffen, die Hoheit über die Begriffe in dieser fundamentalen Debatte zurückzuerlangen, dann können wir die Tür zu einer vernünftigen Diskussion über Zuwanderung, Asyl und Integration öffnen, die dieses Land so dringend braucht und die eine historische Möglichkeit bietet, der Erzählung der Globalisierung ein humanistisches Kapitel hinzuzufügen. Unser Anliegen muss sein, unserer zukünftigen Geschichte den Kapiteln über Ausbeutung, Verelendung und Krieg solche hinzuzufügen, die von einem echten Miteinander handeln, von einem beispiellosen Akt der Menschenwürde und der demokratischen Partizipation. An einem solchen Vorhaben sollten sich die gewählten Volksvertreter messen lassen.Thomas de Maizière ist als Innenminister eine Fehlbesetzung
Der Innenminister hat mit seinem Beitrag die Latte deutlich gerissen. Er ergreift mit seinen Aussagen wie „Bei uns sagt man seinen Namen“, eindeutig Partei. Das Eigene steht über dem Fremden, der Deutsche ist der Meister, der Fremde der Bittsteller. Bittsteller, weil er um Eintritt und Teilhabe an unserer Gesellschaft bittet. Der von der Kanzlerin immer wieder betonte Austausch auf Augenhöhe, den sie freilich immer nur dann ins Spiel bringt, wenn sie in Gesprächen die vermeintlich schwächere Position einnimmt, kann bei de Maizière nicht stattfinden. Er ist als Innenminister eine Fehlbesetzung.