Antisemitismus und Israelkritik : Die Mechanismen sind dieselben

Im Zusammenhang mit der Diskussion um Antisemitismus kann es keine Neutralität geben. Selbst Sachlichkeit hat es hier schwer, obwohl nach der Shoa viele Wissenschaftler den Antisemitismus zu erforschen versucht haben. Dennoch erzeugt bis heute die Diskussion um Antisemitismus eine enorme emotionale Energie. Mir sagt man oft, dass ich als Jüdin von Natur aus nicht neutral sein kann. Ich könne gar nicht beurteilen, was wirklich Antisemitismus sei. Die Betroffenheit durch meine Herkunft mache, dass bei mir Wahrnehmung und Verstand nicht richtig funktionieren können. Das müsse ich doch denen überlassen, die da eben neutraler seien. Selbst die Gutwilligen in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft machen da übrigens keine Ausnahme. Sie erklären mir und anderen Juden besonders gern, was Antisemitismus ist und vor allem was nicht. Dass Deutsche, deren Vorfahren mehrheitlich vom Antisemitismus und dem Genozid an ihren jüdischen Nachbarn profitiert haben, sich selbst zu neutralen Richtern ernennen, wenn es um die Beurteilung von Antisemitismus geht, zeugt von einem Zynismus, der allein durch Geschichtsvergessenheit nicht zu entschuldigen ist. Nein, um Neutralität kann es hier nicht gehen, sondern bestenfalls um Standards menschlichen Miteinanders. Antisemitische Einstellungen unterstellen den Juden negative Eigenschaften, die dann gehasst werden können
Um zu der Frage zu kommen, was Antisemitismus von Israelkritik unterscheidet, braucht es einen kleinen Exkurs über das Wesen des Antisemitismus. Eine Unterscheidung ist nur möglich, wenn der Mechanismus und die Funktionen des Hasses auf Juden benannt werden können. Judenhass - das sind Klischees und Vorurteile, die sich nur im Kopf derer befinden, die hassen. Mit realem jüdischem Leben haben sie nichts zu tun. Antisemitische Einstellungen erfüllen eine Funktion. Sie unterstellen den Juden negative Eigenschaften, die dann gehasst werden können, so wie Geiz, Gier, Bosheit oder Hinterlist. Nicht bei sich selbst, sondern bei „denen“. Das nennt man Projektion. Nichts ist bequemer und zugleich aggressiver, als sich selbst zum Opfer der Juden zu erklären
Ein anderes Gerücht über die Juden ist deren Allmacht. Danach sind sie es, die alles Übel in der Welt zu verantworten haben und mit Vorsatz zu zerstören. Sie seien schuld am Niedergang der Volksgemeinschaft oder der Zensur im Internet, sie kontrollieren angeblich die Weltwirtschaft und die Medien. Auch antisemitische Verschwörungstheorien sind Projektionen der eigenen Fantasien. Die Juden haben demnach den 11. September inszeniert, steuern jetzt die „Flüchtlingswelle“ nach Europa und kontrollieren Gedanken durch Chemtrails. Wer so denkt, kann auf immer Opfer sein. Er muss nicht handeln, nichts entscheiden, er kann sich darauf zurückziehen die Juden zu hassen. Nichts ist bequemer und zugleich aggressiver, als sich selbst zum Opfer der Juden zu erklären. Deshalb nennt man Antisemitismus auch wahnhaft. Ein Wahn braucht keine Realität, er braucht nichts, als sich selbst. Nach der Shoa wurde Antisemitismus geächtet - der Vernichtungsgedanke verschob sich nach Israel
Nach dem Krieg brachte das Entsetzen über die fabrikmäßige Ermordung der Juden jedoch keine Erlösung vom Wahn. Der Antisemitismus verschwand nicht einfach, er reicherte sich sogar noch durch diffuse und reale Schuldgefühle an. Nach der Shoa konnte sich der Hass also nicht mehr direkt auf Juden beziehen, denn Antisemitismus war zurecht geächtet. Also verschob sich der Vernichtungsgedanke an andere Orte. Und Israel war dafür prädestiniert. Diesen Mechanismus zu ignorieren, hilft nur dem Verdrängen und das Verdrängen ist die Schwester der Wut. Das zu wissen ist eine Voraussetzung, um dem Antisemitismus und seinem Vernichtungsgedanken ernsthaft entgegentreten zu können. Der historische Judenhass beeinflusst auch die Codes der Gegenwart noch
Der religiöse Judenhass durch das Christentum und später auch durch den Islam hat seine Wurzeln vor allem in seiner inneren Abgrenzung vom Judentum. Beide sehen sich als eine Art Weiterentwicklung des Jüdischen, aus dem sie hervorgegangen sind. Der Judenhass aus religiösen Quellen hat eine sehr lange und intensive Tradition, die in den kulturellen Alltag und das kollektive Gedächtnis eingeflossen ist und dort noch immer wirkt. Die Annahme, dass das Bild über die Juden heute nichts mehr mit den kulturellen und politischen Codes der Gegenwart zu tun hätte, also in keiner Weise dadurch beeinflusst wären, ist eine Illusion. Andere Traditionslinien werden ja auch nicht bestritten, sondern als selbstverständlich angenommen und gepflegt.Die Mechanismen von Israelkritik und Antisemitismus sind dieselben
Doch nun zur Frage, was Israelkritik und Antisemitismus unterscheidet. Nun, die Mechanismen von Israelkritik und Antisemitismus sind dieselben. Ein Land zu kritisieren ist wohlfeil, und dafür braucht es auch keinen Mut, obwohl von den Kritikern gern das Gegenteil behauptet wird. Die negative Fixierung auf Israel, dessen Politik angegriffen oder gar dessen Existenzrecht infrage gestellt wird, gehört längst zum guten Ton in Deutschland. Die hysterische Aufregung, die Israel ständig auslöst, steht in keinem Verhältnis zu den Problemen, die dieses Land im weltweiten Vergleich hat.Wenn Israelkritik als Form daherkommt und nicht als Inhalt, ist sie antisemitisch.
Wenn Israelkritik also als Form daherkommt und nicht als Inhalt, ist sie antisemitisch. Es geht nicht darum, ob Israel Fehler macht, falsche Politik betreibt oder ungerecht ist. Das zu beurteilen ist so schwierig wie für andere Staaten auf der Welt. Wer sich mit dem Land und der Region ernsthaft beschäftigt, weiss das. Auch die Israelis wissen das. Ja, selbst den Arabern in Israel, den palästinensischen Gebieten und den umliegenden Staaten ist das klar. Doch wieso zieht Israel mehr Zorn auf sich als alle barbarischen, inhumanen, mörderischen Diktaturen der Welt zusammen?Israel hat als Projektionsfläche den Status des verhassten Juden von einst eingenommen
Die ideologische Verurteilung Israels wird dem Konflikt, seiner Geschichte und seinem Status Q in keiner Weise gerecht. Wenn es so ist, wie kann es da sein, dass die obsessive Verdammung Israels als vermeintlicher Kern des Bösen auf der ganzen Welt nichts mit Antisemitismus zu tun hat? Israel hat als Projektionsfläche längst den Status des verhassten Juden von einst eingenommen. Jeder einzelne der Mechanismen des Antisemitismus wurde inzwischen auf Israel ausgedehnt. Die Aggressivität, mit der über Israel gesprochen wird ist von Antisemitismus erfüllt, denn er projiziert, ist von Schuldgefühlen und Verschwörungstheorien durchzogen, in denen Israel eine dämonische Macht zugeschrieben wird. Ob sich diese Mechanismen nun Israelkritik nennen oder Antizionismus, ob sie aus muslimisch oder christlich geprägten Milieus kommen, die Obsession bleibt antisemitisch.Die richtige Frage heißt: Wann ist Israelkritik nicht antisemitisch?
Die Frage sollte umgekehrt gestellt werden: Wann ist Israelkritik nicht antisemitisch? Ganz einfach: Wenn sie nicht Israelkritik genannt wird, sondern sich ernsthaft mit der Wirklichkeit der Menschen dort beschäftigt und zwar den Juden wie den Arabern. Wenn Juden nicht mit Israel gleichgesetzt, sondern als eigenständige Menschen mit ernstzunehmenden Erfahrungen betrachtet werden. Es ginge dann also nicht um betroffen versus neutral, sondern darum Juden mit ihrer wichtigen und unverzichtbaren Perspektive zu respektieren. Und wenn diejenigen, die sich mit Israel beschäftigen, bereit sind zu reflektieren, was das alles mit ihren eigenen Traditionen oder Familiengeschichten zu tun hat, dann kommen wir einen Schritt weiter. Antisemitismus ist der schrille Schrei, der Hass oder die Eiseskälte, die entsteht, wenn es um Juden geht. Oder um Israel.