Spaltung der Gesellschaft? : Wir brauchen neue Debatten zur Identitätspolitik

Ist es nicht Ausdruck von identitätsfixiertem Dogmatismus, auf einer weiblichen Endung in einem Text zu bestehen? Macht es diesen nicht unsinnig kompliziert? Erzeugt das nicht eine identitäre Differenz – männlich/ weiblich –, wo zuvor nur die Sache war? Ist es nicht völlig unerheblich, wer da spricht, für das, was gesagt wird? Oder ist eine ausbuchstabierte weibliche Endung nicht einfach eine undramatische, angemessene Erweiterung der sprachlichen Möglichkeiten, um eine undramatische Realität abzubilden, in der es männliche und weibliche Sprecher_innen eben gibt? Und, da! Sie haben es bemerkt: der Unterstrich. Dieser Hinweis in einem Wort darauf, dass es mehr Geschlechtlichkeiten als Mann/Frau gibt. Was soll das? Gegenderte Schreibweisen sind ein ausbuchstabierter Ausdruck der Realität.
Es wäre wünschenswert, wir würden diese Fragen ernsthaft stellen und debattieren. Gerne auch mit Humor, sehr gern! Stattdessen ist ein heftiger Streit um die „Identitätspolitik“ entbrannt, als dessen Ausdruck zum Beispiel der Unterstrich gilt. Die einen machen „Identitätspolitik“ verantwortlich für den Untergang des rationalen Abendlandes, für den Verfall der Debattensitten und der Redekultur. Die anderen setzen darauf als Form der Aufklärung und Rationalisierung. Für sie ist ein Unterstrich Teil von Herrschaftskritik.
Auffällig ist dabei zunächst einmal, dass kaum einer benennt, was genau mit „Identitätspolitik“ gemeint ist. Der Begriff wird überwiegend negativ verwendet, zur polemischen Abwertung von ominösen, immer aber schlimmen Positionen. „Identitätspolitik“ sei gruppistisch, kulturalistisch, ästhetisierend, differenz fixiert – vor allem ist zu lesen, sie sei das Gegenteil von universalistisch und politisch.
"Kulturelle Identität" als Abgrenzung
Es gibt aktuell im politischen Raum lediglich eine Gruppe, die sich als „identitär“ bezeichnet, die vom Verfassungsschutz als „rechtsextrem“ eingestufte „Identitäre Bewegung“ nämlich. In diesem Zusammenhang steht „Identität“ für eine klare, in sich homogene, kulturelle Eigenart von Völkern beziehungsweise Ethnien. Das „Eigene“ soll verteidigt werden gegen das „Andere“, das Fremde. Die „ethnokulturelle Identität“ wird dabei als gegeben gesetzt – was paradox ist, denn wäre sie gegeben, müsste sie nicht gesetzt werden. Rhetorisch aber ist diese Behauptung anschlussfähig, sie dockt an weitverbreitete Vorstellungen von einer „kulturellen Identität“ an, etwa der christlichen, der deutschen, der westlichen und so weiter. Identitätspolitik führt zu falschen Schlüssen von sozialer Position auf individuelle Eigenschaften.
In dieser Logik ergibt sich aus einer gegebenen sozialen Position eine eindeutige subjektive Disposition. Und deshalb ist es angemessen und wichtig, „identity politics“ zu kritisieren. Jedenfalls dann, wenn damit gemeint ist: Ausgehend von einer als homogen gegebenen Region, Religion, einem Geschlecht haben die entsprechend verorteten Menschen eine klare, wiederum gegebene und homogene Identität; als Mann oder Frau oder nicht-binär, als katholisch, jüdisch oder muslimisch, als Deutsche oder Kanadier, als Schwarze oder Weiße. Politisch wird es dann, wenn auf einer solchen, vermeintlichen Identität Rechte gefordert, Anerkennung erwartet, Positionen formuliert werden. Ich bezeichne diese Form als „positionalen Fundamentalismus“, weil er in vereinfachender und falscher Weise von sozialer Position auf politische oder individuelle Position deterministisch kurzschließt.Gruppenzugehörigkeit spielt für gesellschaftliche Chancen eine große Rolle.
So weit, so klar, und so wenig kontrovers. Aber auch so halb-wahr. Denn die jüngste Kritik, vorgetragen in deutschen Feuilletons, vor allem aber in den USA derzeit virulent, übersieht: Gruppenzugehörigkeiten und soziale Differenzen spielen eine kaum zu überschätzende Rolle in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität, Alter, Religion, (Nicht-)„Behinderung“ entscheiden mit über Gesundheit, Lebenserwartung, Chancen auf einen Job oder einen Mietvertrag. Diese Effekte sind empirisch belegt. In der BRD sind heute knapp 20 Prozent der höchstdotierten Professuren mit Frauen besetzt, bei einer Grundgesamtheit von über 50 Prozent Studierenden. Schwarze leben in den USA im Schnitt etwa vier Jahre weniger als weiße Menschen. Die Unterschiede sind real. Sie entscheiden auch darüber, ob jemand als Allgemeines gilt – als Individuum mit einer Geschichte – oder als „der Jude“, „die Frau“, „die Migrantin“, „der Behinderte“.
Identität war immer schon
Die Kritiker aber tun so, als spiele die soziale Positionierung gar keine Rolle für das, was gesagt wird. Es wird so getan, als brächten erst jetzt bestimmte Gruppen ihre Identitäten in den öffentlichen Raum, wo ansonsten völlige Neutralität galt. Dabei hat es für die Moderne immer schon eine Rolle gespielt, wer spricht, wer sichtbar ist. Identität war immer schon.
Soziale Kämpfe der Moderne haben sich immer wieder an der faktischen Diskrepanz zwischen Versprechung und Wirklichkeit entzündet. Um Gleichheit zu erlangen, musste die Differenz deutlich und sichtbar gemacht werden, musste gezeigt werden, dass Herrschaft und soziale Ordnung auf Gruppenzugehörigkeiten und sozialen Differenzen basiert. Es gehört zu den mächtigsten Herrschaftsmechanismen, dass ein bestimmtes Partikulares zum Allgemeinen wird, dass die Praxen, Erfahrungen und Deutungen einer spezifischen Gruppe sich durchsetzen als das, was „man“ ist, „man“ liest, macht, denkt, erlebt. Die „Anderen“ hingegen sind wesentlich als Abweichung markiert. Es gab historisch Menschen einerseits und Frauen, Schwarze, Wilde, Behinderte andererseits.Soziale Ordnung und Herrschaft beruhen auf Gruppenzugehörigkeiten und sozialen Differenzen.
Man kann zu Recht kritisieren, dass soziale Positionierung mit inhaltlicher Position gleichgesetzt, also verwechselt wird. Dabei sollte aber nicht geleugnet werden, dass soziale Positionierungen Haltungen mit konstituieren. Wie müsste eine Gesellschaft beschaffen sein, in der Identität sein darf, ohne fundamentalistisch mit einer homogenen Essenz verwechselt zu werden? Wie könnte zum Beispiel Herkunft als je spezifische, unausweichliche und doch aktiv gestaltete Historizität der eigenen Biographie und der eigenen sozialen Position anerkannt werden, ohne sie leugnen zu müssen, um im Politischen sprechen zu können, als Teil einer Allgemeinheit? Wie können wir Haltung und Herkunft sichtbar machen, anstatt in einem unproduktiven entweder/oder zu verharren? Das wären die spannenderen Debatten.