Flughafendebatte : Politik muss verlässlich sein: Tegel schließen

Am 24. September stimmen die Berlinerinnen und Berliner darüber ab, ob der Flughafen Tegel nach der Eröffnung des neuen Flughafens BER dauerhaft weiter betrieben werden soll. Nach Einschätzung des Senats ist ein Weiterbetrieb rechtlich nicht möglich. Natürlich nehmen wir zur Kenntnis, dass es auch Rechtsgutachten gibt, die zu anderen Auffassungen kommen. Es wird also mit Blick auf Genehmigungen zu langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen. Darüber hinaus können zwei große Flughäfen nicht wirtschaftlich betrieben werden, gerade wenn die Gesamtkapazitäten auch mit Billigfluglinien ausgelastet werden sollen, die nach allen Erfahrungen nur eine sehr begrenzte Bereitschaft zur Deckung der Flughafenkosten mitbringen. Zwei große Flughäfen können nicht wirtschaftlich betrieben werden.
Bisher stehen diese rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte einer Offenhaltung Tegels im Vordergrund. Es geht jedoch auch um eine andere ganz andere Dimension des Themas, nämlich die Art und Weise, wie unsere Stadtgesellschaft ihr Zusammenleben gestaltet. Und da geht es eben nicht nur darum, ob wir einen zweiten Flughafen wollen oder das Flughafengelände für innovatives Gewerbe, für Wohnraum und Naherholung nutzen möchten. Vielmehr stellt sich gerade bei einem solchen Infrastrukturprojekt mit seinen weitreichenden Folgen für eine Vielzahl von Menschen die Frage, welche Verlässlichkeit oder Verbindlichkeit Entscheidungen haben, die nach langwierigen politischen Prozessen zustande gekommen und die umfangreich gerichtlich überprüft worden sind. Lärm macht krank: Vom Fluglärm in Tegel sind knapp 300 000 Berliner betroffen.
Nach neuen Berechnungen der Umweltverwaltung sind knapp 300 000 Berlinerinnen und Berliner vom Fluglärm in Tegel betroffen. Fast die Hälfte davon hat Anspruch auf aufwändige Lärmschutzmaßnahmen. Lärm macht krank: Schlafstörungen, Depressionen, Kreislauferkrankungen sind nur einige der möglichen Folgen. Der Lärm nervt aber auch jene, die er nicht krank macht. Dann etwa, wenn ein Gespräch bei geöffnetem Fenster oder auf dem Balkon nicht mehr möglich ist, wenn man beim Fernsehen die entscheidenden Passage nicht mitbekommt, wenn einfach keine Ruhe einkehren will.
Diese 300 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger setzen seit Langem darauf, von diesen gravierenden Belastungen befreit zu werden. Es ist nicht akzeptabel, diese Entlastung jahrelang immer wieder anzukündigen und sie am Ende dann nicht umzusetzen. Denn seit Mitte der neunziger Jahre sind viele tausend Menschen nach Pankow gezogen, nach Reinickendorf und Spandau, darunter besonders viele Familien mit Kindern. Sie alle haben ihre Entscheidung auch im Vertrauen auf die rechtlich gesicherte Beseitigung der Lärmquelle Tegel getroffen. Viele wollten raus aus der Innenstadt, rein in einen Kiez, in dem es absehbar ruhig wird. Die Offenhaltung von Tegel wäre eine grobe Täuschung der betroffenen Bürger und somit moralisch nicht hinnehmbar.
Schon durch die verschobene BER-Eröffnung sind diese Menschen schwer enttäuscht worden. Aber sie müssen darauf vertrauen können, dass ihre Entscheidung schlussendlich richtig gewesen sein wird, weil ein Ende des Fluglärms absehbar ist. Enttäuschungen sind manchmal nicht vermeidbar, aber eine grobe Täuschung der Bürgerinnen und Bürger, und dies wäre die Offenhaltung des Innenstadt-Flughafens Tegel, ist weder moralisch noch politisch hinnehmbar.
Die Schließungsentscheidung im Jahr 1996 wurde im Konsens aller im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien getroffen wurde. Bis 2016 war dieser Beschluss politisch unangefochten. Mehr politischer Konsens geht kaum und darauf haben viele Bürgerinnen und Bürger vertraut. Natürlich können in einer demokratischen Gesellschaft Entscheidungen der Vergangenheit revidiert werden. Dazu bedarf es aber wegen des politischen Vertrauensschutzes sehr guter Gründe. Und bei ehrlicher Betrachtung aller Facetten der Sachlage ist mit Blick auf den Flughafen Tegel keine neue Situation erkennbar, die so gravierend wäre, dass die ursprünglich gefassten und in aufwändigen rechtlichen Verfahren abgesicherten Festlegungen revidiert werden sollten oder gar müssten.Lebensentscheidungen wurden im Vertrauen auf die Schließung Tegels getroffen.
Weil sehr viele Berlinerinnen und Berliner wichtige Lebensentscheidungen im Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Politik getroffen haben, würden sie eine Offenhaltung des Flughafens Tegel nicht akzeptieren. Eine Flut von Klagen und Prozessen wäre die Folge. Der Versuch, Tegel weiter offen zu halten, würde auf Jahre einen Keil in unsere Stadtgesellschaft treiben. Dies kann und wird der Stadt und ihrer Stadtgesellschaft nicht gut tun, sind wir doch in Berlin schon mit hinreichend vielen Herausforderungen konfrontiert.
Sicher, direkte Demokratie ist ein hohes Gut. Der Senat würde sich daher bei einem “Ja” des Volksentscheids nicht einfach über ein Votum der Berlinerinnen und Berliner hinweg setzen wollen und können. Genau deshalb muss man aber den Initiatoren des Volksentscheids den Vorwurf machen, ein gefährliches Spiel zu spielen. Wissentlich und absichtlich treiben sie die Politik in den möglichen Spagat zwischen Vertrauensschutz und direktdemokratische Entscheidung. Das ist ein Programm für Politikverdrossenheit.
Ich bin sicher, dass am Standort BER die möglicherweise steigenden Fluggastzahlen bewältigt werden können - auch wenn ich als Umwelt- und Klimaschutzsenatorin der Meinung bin, dass wir uns schnellstmöglich und intensiv um klimafreundliche Alternativen zum Fliegen bemühen müssen. Manche Berlinerinnen und Berliner im Umfeld von Tegel oder in den Einflugschneisen sorgen sich, dass die Schließung von Tegel zu einem Gentrifizierungsschub und steigenden Mieten in den jeweiligen Kiezen führen könnte. Dieser Herausforderung können und müssen wir begegnen, aber doch bitte nicht so, dass wir den krankmachenden Lärm beibehalten und damit auf Kosten der Gesundheit unserer Nachbarinnen und Nachbarn. Und wir werden Wege finden, die großen Verdienste und die Identität schaffenden Erfahrungen mit dem Flughafen Tegel in der Stadterinnerung wach zu halten, genauso wie der Flughafen BER nach seiner Inbetriebnahme nicht nur ein Symbol eines missglückten Großprojekts, sondern eben auch ein beliebtes, Identität und Emotionalität stiftendes Tor von und nach Berlin sein wird.
Der Senat kämpft deshalb für ein “Nein” beim Volksentscheid und setzt auf die besseren Argumente, gerade auch aus dem breiteren Blickwinkel der Stadtgesellschaft. Am 24. September geht es um den verantwortungsvollen Umgang mit der knappen Ressource Fläche in der Stadt, die Chance für neuen Wohnraum, für neues Gewerbe, ein ökologisches Modellquartier und neue Grün- und Erholungsflächen im Norden unserer Stadt. Aber auch und vor allem geht es um die Verlässlichkeit politischer Entscheidungen, um Solidarität und einen guten Stil des stadtgesellschaftlichen Umgangs in unserer lebendigen Metropole Berlin.