Sarrazins Buch "Feindliche Übernahme" : Sarrazin erfindet den Homo Koranicus

Die faktenbasierte Analyse, der Thilo Sarrazin sich in seinem neuen Buch „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ verschreibt, lässt er beinah entwaffnend naiv bereits zu Beginn des Buches hinter sich: Der Frage nach dem „Wesen des Islam“ möchte er nachgehen, indem er den Koran liest, „so wie ich ihn als verständiger Laie ohne Kenntnisse des Arabischen in deutscher Sprache verstehe“. Er folge dabei ausschließlich seinem „unmittelbaren Textverständnis“ und klammere alles aus, „was ich ansonsten über den Koran und den Islam gehört und gelesen habe“. Der ehemalige Finanzsenator aus Berlin und der über 6000 Verse umfassende Text aus dem spätantiken Arabien - sie stehen sich quasi nackt gegenüber. Dass man sich dem Koran, der in einem Zeitraum von über zwanzig Jahren einer arabischsprachigen Hörerschaft offenbart wurde, so nicht nähern kann, lernen die Studierenden der islamischen Theologie in Deutschland im ersten Semester. Das ist Grundkonsens islamischer Gelehrsamkeit. So entblößt, seinem historischen und sozialen Kontext, seiner 1400-jährigen Interpretationsgeschichte, seiner vielen inneren Spannungen und Mehrdeutigkeiten entrissen, wird der Text zu wenig mehr als dem Spiegel seines Interpreten. Sarrazin nimmt den Koran wörtlich, doch ohne historischen Kontext, ohne Interpretation ist er nicht zu verstehen.
Der Koran ist ein vieldeutiger Text, in dem Gott mal strafend, mal vergebend erscheint, in dem absolute Kenntnis über den Glauben oder Unglauben nur Ihm zugeschrieben wird, in dem der Mensch mal frei im Handeln ist, mal von Gott gelenkt. Ein Text, in dem Muhammad eine Figur mit vielen Charakterzügen ist, in dem Kategorien von Glaube und Unglaube fluide sind, die Schriftbesitzer mal Partner im Glauben, mal Konkurrenten, in dem Krieg eine Option ist wie der Frieden, das Recht auf Vergeltung eine Option wie auch das Gebot der Vergebung. Zu Recht erscheint der Koran dem Laien Sarrazin daher „an vielen Stellen schwer verständlich“, als ein Text, in dem die meisten Suren „keinen roten Faden“ haben und die Bandbreite der Aussagen schwer überschaubar ist. Dies hindert ihn nicht daran, im gleichen Atemzug einige wenige Aussagen als „zentrale Botschaft des ganzen Korans“ zu präsentieren.
Muslimen war immer klar, dass der Koran zwar wörtlich überliefert wird, dass die Bedeutung der Worte sich aber aus dem Kontext der jeweiligen Stelle und des jeweiligen Betrachters ergibt. Muslimische Gelehrte greifen dabei auf eine Tradition zurück, die neben Semiotik, Semantik, Grammatik, Sprachwissenschaft, Logik und Geschichte auch Grundlagen der Hermeneutik und der Rechtsmethodologie umfasst. Der Koran als sakraler Text war den meisten Menschen in der Geschichte so heilig, und angesichts seiner Komplexität auch einer persönlichen Deutung entzogen, dass die Interpretation in den Händen der Gelehrten lag. Wie sich „Das Christentum“ in Geschichte und Gegenwart auf der ganzen Welt für Staaten und Menschen nicht durch die Bibellektüre eines Laien rekonstruieren lässt, ist dies auch nicht für den Islam möglich. Sarazzin sammelt aus dem Koran nur diejenigen Stellen, die in sein Konzept passen.
Doch selbst ein solches Unterfangen könnte zumindest intellektuell redlich geführt werden. Sarazzin aber sammelt nur diejenigen Stellen, die in sein Konzept passen. Damit führt er den interessierten Leser in die Irre, informiert ihn fehlerhaft und unzureichend, kommt zu falschen Schlüssen.
Dass Sarrazin im Koran weder eine Gleichstellung der Geschlechter noch eine säkulare Herrschaftsform, noch eine Demokratie, noch ein Konzept eines religionsübergreifenden Staatsbürgertums findet, ist eine logische Selbstverständlichkeit: Dies sind welthistorisch Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Für ihn ist aber wichtig, dies zu bekritteln, denn zu allem, was nicht im Koran steht, sind ihm Muslime nicht fähig. Strukturelle Ähnlichkeiten zum Christentum, zum Beispiel im Gottesbild, werden dabei ebenso ausgeblendet wie historische Parallelen in der religiösen Begründung weltlicher Herrschaft. All dies braucht er für sein Paradigma der unwandelbaren Kulturen.
Problematischer sind jedoch die Karikaturen, die Sarrazin vom Islam und Menschen muslimischen Glaubens zeichnet. Der Muslim erscheint bei ihm als Homo Koranicus, den nicht seine Kontexte, sondern nur ein Text (in der Auslegung Sarrazins) bestimmen. Damit ist klar, was der Muslim ist, war und sein wird, zu jeder Zeit der Geschichte, an jedem Ort der Welt. Sarrazin zieht aus seinem Koran „Mentalitätsaspekte“ der Muslime. Jeder Muslim ist ihm ein potenzieller Fundamentalist, der Islam sei feindlich gegenüber der Kunst und dem Wissen über die Welt. Die Besucher der Alhambra, des Taj Mahals und des Museums für Islamische Kunst in Berlin scheinen sich also für nicht existierende Dinge zu interessieren.In Sarrazins Weltsicht haben Völker Mentalitäten, einen "Volksgeist" - ein Konzept des 19. Jahrhunderts.
So gelingt es Sarrazin, höchst komplexe historische Begebenheiten durch den - von ihm selbst geschaffenen - Islam zu erklären. So gelingt es ihm auch, kriminelle Banden, die mit Drogenhandel, Prostitution und Glücksspiel Kernvorschriften des Islams verletzen, als Muslime zu verbuchen und ihr Verhalten als durch den Islam evoziert. Eine Variable erklärt alles; Sarrazin scheint mit dem Islam die Weltformel gefunden zu haben. Der zentrale Bezug auf den Historiker Jacob Burkhardt, der vor 200 Jahren geboren wurde, ist dabei exemplarisch. Sarrazin bezieht sich damit auf eine Gedankenwelt, in der Völker noch Mentalitäten hatten und der „Volksgeist“ in ihnen über Raum und Zeit hinweg wohnte. Muslime sind für Sarrazin zur Rückständigkeit verdammt.Durch die monokausale Erklärung mit "dem Islam" unterbleibt die zielführende Analyse echter gesellschaftlicher Probleme.
Der Autor offenbart dabei ein grundlegendes Problem unserer Islamdebatte: In einem diffusen Szenario bedroht der Islam den Fortschritt und die Freiheit unserer Gesellschaft. Die notwendige Auseinandersetzung mit konkreten Problemen in ihrer ganzen Komplexität - Terrorismus, der sich auf den Islam bezieht, abgehängte Stadtteile, Kriminalität, schlechte Bildungsperformance, Antisemitismus, Minderwertigkeitsgefühle, Überlegenheitsansprüche, Gewalt gegenüber Frauen - wird allerdings verhindert, wenn der scheinbar unwandelbare Islam zur Ursache erklärt wird. Was das für Lösungen impliziert, wird im Buch deutlich und damit sicherlich am rechten Rand mit Wohlwollen aufgenommen. Von den Lösungen der angesprochenen Probleme entfernen wir uns damit allerdings mit großen Schritten. Was und wer hier unter Rückgriff auf Ideen des 19. Jahrhunderts den Fortschritt behindert und die demokratische Gesellschaft bedroht, mag man für sich beantworten.