Stimme für das Kreuz : Dialog unter dem Kreuz

Als Symbol der Versöhnung prägt das Kreuz das Selbstverständnis der Evangelischen Kirche und ihre Präsenz im kulturellen, sozialen und politischen Leben in Berlin. Schon das Wort des Apostels Pauls markierte pointiert die Bedeutung der christlichen Botschaft als Versöhnungsbotschaft: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (Zweiter Korintherbrief Kapitel 5, Vers 19). Mit Erschrecken habe ich deshalb in der aktuellen Debatte um die Wiedererrichtung des Kreuzes auf dem Berliner Stadtschloss das Argument vernommen, es sei nicht möglich, in einem Gebäude, das ein Kuppelkreuz trage, einen kulturellen Dialog auf Augenhöhe zu führen. Das rekonstruierte Schloss müsse auf das Kreuz verzichten, um das Humboldt Forum beherbergen zu können. Diese Argumentation ist ebenso unhistorisch wie unsachlich. Das Kreuz ist ein Symbol der Versöhnung.
Unhistorisch ist es, das wilhelminische Stadtschloss seines Kreuzes zu berauben. Denn die wilhelminische Staatsphilosophie und ihre Bauten können nicht ohne die enge Verbindung von Thron und Altar verstanden werden. Das Gottesgnadentum des preußischen Herrschers ist Teil der Geistesgeschichte unseres Landes – ob es uns gefällt oder nicht. Wer sich für eine historische Rekonstruktion eines Gebäudes entscheidet, kann nicht die Zusammenhänge ignorieren, die das Gebäude erst verständlich machen. Wer Elemente, die ihm nicht genehm sind, herauslösen will, lässt die Grenzen zwischen dem was möglichst originalgetreu wiederherzustellen ist und der notwendigen aktuellen Interpretation verschwimmen. Bei einer historischen Rekonstruktion muss auf Zusammenhänge, die das Gebäude verständlich machen, geachtet werden.
Ein Schloss ohne Kreuz würde weithin ein geradezu unseriöses Geschichtsbewusstsein sichtbar machen: Es wird rückblickend getilgt, was heute nicht gefällt. Wenn in dieser Weise mit der eigenen deutschen Kulturgeschichte umgegangen wird, wäre dies keine gute Visitenkarte für das Humboldt-Forum. Dort sollen die Kulturen der Welt dargestellt, interpretiert und ins Gespräch gebracht werden. Wird dann auch bei diesen Kulturen die Grenze zwischen sachgemäßer historischer Darstellung und aktueller Interpretation verwischt werden? Wird auch bei ihnen willkürlich ausgewählt werden, was heute noch als zeigenswert gelten soll? Ein Verzicht auf das Kreuz würde ein unseriöses Geschichtsbewusstsein sichtbar machen.
Unhistorisch also ist es, das Kreuz vom rekonstruierten Bau verschwinden zu lassen. Und unsachlich ist es, das Kreuz zu eliminieren, mit der aktuellen Begründung, es erschwere heute einen Dialog der Kulturen auf Augenhöhe. Um diesen Dialog zu ermöglichen, ist es gerade notwendig, das Kreuz sichtbar zu machen, damit es seinen Beitrag zur aktuellen Interpretation der Bedeutung des christlichen Glaubens für unsere Kultur einbringen kann. Das Kreuz muss die Chance bekommen, in der Spannung von geschichtlicher und aktueller Deutung neu interpretiert zu werden. Wer das Kreuz weg haben will, unterschlägt, dass das Christentum ein wesentliches Element unserer Geschichte und unserer Gegenwart ist. Wer so handelt, will nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Evangelische Kirche in einem intensiven Ringen längst eine kritische Haltung zur wilhelminischen Verbindung von Thron und Altar entwickelt hat. Das Wort des Paulus, der die Gegenwart Gottes im gekreuzigten und auferstandenen Christus als die Versöhnungstat Gottes interpretiert, prägt heute die Kreuzestheologie. Für einen Dialog der Kulturen auf Augenhöhe muss das Kreuz gebaut werden.
Eines der wirkungsmächtigsten theologischen Bücher des vergangenen Jahrhunderts hat das Verständnis des Kreuzes als eine kritische Kraft maßgeblich geprägt. So schreibt Jürgen Moltmann in Der gekreuzigte Gott „Theologia cruxis ist nicht ein Kapitel der Theologie, sondern das Vorzeichen aller christlichen Theologie. (…) Sie ist dialektisch-geschichtliche Theologie und nicht eine Theologie der Weltgeschichte. Sie stellt nicht fest was ist, sondern ist darauf angelegt, Menschen aus ihren unmenschlichen Definitionen und ihren idolisierten Festlegungen zu befreien, auf die sie sich selbst und auf die die Gesellschaft sie fixiert hat.“
Die öffentliche Darstellung des Kreuzes heute abzulehnen, ohne die Interpretationsgeschichte zur Kenntnis zu nehmen, die die Theologie seit dem wilhelminischen Zeitalter fortgeschrieben hat, ist schlichtweg unsachlich. Die Interpretation des Kreuzes als Versöhnungszeichen ist heute in den Berliner Kirchen maßgeblich und wirkmächtig. Das Versöhnungskreuz von Coventry prägt zum Beispiel die Botschaft der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als eines der ausstrahlungsstärksten Bauwerke Berlins. Im Geiste dieses Versöhnungskreuzes können sich heute Juden, Christen, Muslime und Agnostiker zu Gedenkfeiern für die Terroropfer vom Breitscheidplatz friedlich vereinen.
Welche Botschaft sollen die Christen in Berlin eigentlich hören, wenn ihnen gesagt wird, man könne das Kreuz nicht auf der Kuppel des Schlosses dulden, weil es ein Herrschaftszeichen sei, das einen Dialog der Kulturen behindere? Ja, es mag ein solches Zeichen gewesen sein. Aber gerade dieser Geschichte muss sich nicht nur die Kirche, sondern unsere Gesellschaft insgesamt stellen. Das Kreuz auf der Kuppel des Stadtschlosses wird die wichtige Diskussion anregen, wie sich unsere Gesellschaft zu ihren historischen christlichen Wurzeln und zu ihrem aktuell gelebten Christentum verhalten will.Das Kuppelkreuz wird Diskussionen über unser Verhältnis zum Christentum anregen.
Wer das Kreuz als Zeichen eliminiert, verbreitet die Botschaft, dass er diese Diskussion aus dem öffentlichen Raum verdrängen will. Wenn aber unsere Gesellschaft sich nicht einmal in angemessener Weise ihrer eigenen Kulturgeschichte stellt, wie kann sie dann eine glaubwürdige Gastgeberin im Haus der Kulturen der Welt sein?