Neutralitätsgesetz an Schulen : Wer hat Angst vor dem Kopftuch – und warum eigentlich?

In meiner Kindheit spielten wir in der Grundschule mit großer Begeisterung in der Turnhalle „Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann?“ Einer wurde zum „Neger“ ernannt – so sprachen wir damals – und musste aus der wild durcheinander rennenden Meute möglichst viele „weiße“ Kinder herausfangen, die dadurch augenblicklich auch zu Schwarzen und Mitfängern wurden. Am Ende blieb nur ein weißes Kind übrig – das war der Sieger. Ehrlich gesagt: Durch unser Kinderspiel ist keiner meiner Mitschüler zum Rassisten geworden. Selbst ein schokoladenbraunes Diplomatenkind aus Indonesien spielte mit großer Selbstverständlichkeit mal einen Weißen und mal den Schwarzen. Und niemand fand etwas dabei.
In meiner Jugend bin ich dann – selbst ohne religiösen Hintergrund erzogen und vom Religionsunterricht befreit – aus purem Sachinteresse mal in den katholischen und mal in den evangelischen Religionsunterricht gegangen. Selbstverständlich unterrichteten die Religionslehrer in der Staatsschule in Bayern in ihrer Priesterrobe. Und selbstverständlich hing ein Christuskreuz im staatlichen Klassenzimmer. Niemand, der es nicht im Elternhaus schon geworden war, ist dadurch katholisch geworden. Aber diese Pädagogen waren interessante Persönlichkeiten, an deren völlig anderen Lebensentwürfen wir Heranwachsenden uns abarbeiten und durch die wir einen eigenen Standpunkt gewinnen konnten, was ja wohl der Hauptzweck der allgemeinbildenden Schule ist. Solche Auseinandersetzungen mit anderen Lebensentwürfen sind schließlich der Kern von Bildung. Der Anblick von Kreuz, Kippa oder Kopftuch führt noch lange nicht zur Bekehrung der Betrachter.
Vor kurzem hat eine Gruppe von Lehrkräften und ehemaligen Lehrkräften in einem Appell an die Berliner Landesregierung mit Nachdruck ein Festhalten am so genannten Berliner "Neutralitätsgesetz" gefordert und insbesondere darauf hingewiesen, dass Lehrerinnen mit Kopftuch, aber auch Juden, die eine Kippa, oder Christen, die ein Jesuskreuz am Halskettchen tragen, nicht in öffentlichen Schulen tätig werden dürften. Warum eigentlich? Wovor fürchten sich die Religionskritiker überhaupt? Ändert sich etwas am Satz des Pythagoras, wenn der Mathematiklehrer eine Kippa oder die Lehrerin einen Hidjab trägt? Stellt der Anblick religiöser Symbole eine Bedrohungslage für die Jugend und den freiheitlichen Staat dar? Ich halte das für absurd.
Als Erziehungswissenschaftler interessiert mich die empirische Seite dieser im Übrigen hoch komplexen Verfassungsfrage. Mir ist keine Studie bekannt, nach der der pure Anblick von Glaubenssymbolen zu einer Überwältigung des Betrachters führen würde oder gar deren Bekehrung zur Religiosität zur Folge hätte. Und in jenen Bundesländern, in denen Hidjab-tragende Lehrerinnen auch in der öffentlichen Schule unterrichten dürfen, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen, passiert in der Regel auch nichts Schlimmes. Den Schülerinnen und Schülern ist es völlig schnuppe, ob die Lehrerin ein Kopftuch trägt oder nicht. Nur die alte Generation hat ein Problem damit. Ein ideologisches Problem! Es gibt übrigens keine einzige Tschador- oder Burka-tragende Lehramtsbewerberin in Deutschland. Die pädagogisch unmögliche, weil die Mimik verdeckende Vollverschleierung ist also kein reales Problem, über das man hier nachdenken müsste. Das Problem mit Religionssymbolen ist ein ideologisches Problem der alten Generation.
Vor diesem Hintergrund und dem Wortlaut des genannten Appells, der durchaus Muslimas den Zugang zum Schuldienst gestatten will, aber bitteschön nur "emanzipierten", nicht etwa konservativen Muslimas, erweist sich schon die Bezeichnung "Neutralitätsgesetz" als purer Euphemismus. Es handelte sich in meinen Augen von Anfang an um ein "Intoleranzgesetz", denn es wandte sich, obwohl alle Religionen einbeziehend, natürlich primär gegen Kopftuchträgerinnen und wurde ja auch erst als Reaktion auf das inzwischen korrigierte Verfassungsgerichtsurteil von 2003 erlassen, wonach Kopftücher bei Lehrerinnen nur auf der Basis eines Landesgesetzes verboten werden könnten. Die Fragwürdigkeit der Argumentation um das so genannte Berliner "Neutralitätsgesetz" konnte man im Februar sehr schön in der Abendschau des rbb sehen, als die Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses Cornelia Seibeld (CDU) sich vehement für dieses Gesetz und ein Kopftuchverbot für Berliner Lehrerinnen aussprach – demonstrativ mit einem Christuskreuz am Halskettchen, das sie auch sonst gerne trägt.Nur eine öffentlich ausgeübte Religiosität kann auch demokratisch kontrolliert werden.
Sie soll es tragen dürfen, auch wenn sie eine Schule besucht! Es steht Ihr! Ich wünsche mir tatsächlich als Pädagoginnen und Pädagogen für meine Enkelkinder geradezu Menschen, die sich trauen, sich zu etwas zu bekennen. Menschen, die permanent ihre Identität verleugnen müssen, um von SPD, CDU und FDP im Schuldienst geduldet zu werden, sind meines Erachtens als Pädagogen nicht besonders geeignet. Denn sie können ja ihren Schülern niemals als authentische Persönlichkeiten gegenübertreten. Im Übrigen hat Religion nicht nur eine private, sondern auch eine öffentliche Seite. Dazu gehört, dass sie öffentlich gezeigt werden darf. Und nur eine öffentlich ausgeübte Religiosität kann auch demokratisch kontrolliert werden.Pädagogen und Pädagoginnen müssen zu ihrer Identität stehen dürfen, um authentisch zu sein.
Meines Erachtens machen die Kopftuchverbieter schlicht einen Logikfehler, wenn sie unterstellen, dass das Kopftuch entweder ein Symbol der Unterdrückung der Frau oder ein religiöses Kampfmittel extremistischer Muslimas sein muss und daher zweifelsfrei bekämpft werden müsse. Das Kopftuch kann natürlich beides sein und ist es auch sehr oft; es muss es aber durchaus nicht sein. Es kann auch schlicht ein Signal der Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie sein oder einfach muslimische Tracht, so wie es derzeit in Bayern äußerst chic ist, Dirndl zu tragen, auch bei Frauen, die selbst keinerlei ländlich-bäuerliche Herkunft vorzuweisen haben. Indem sie es ohne jeden Selbstzweifel entweder einseitig zum frauenverachtenden Unterdrückungssymbol oder zum religiösen Kampfmittel erklären, schaffen die Kopftuchverbieter mithin das Problem erst selbst, das sie anschließend mit erheblichem Eifer glauben bekämpfen zu müssen. Sie bekämpfen ihr eigenes laizistisches Konstrukt. Merken die Kopftuchverbieter eigentlich gar nicht, dass sich ihr entschiedener Laizismus hinsichtlich seines Anspruchs auf alleinigem Definitionsrecht dessen, was in dieser Republik kulturell tragbar ist, logisch in nichts von dem religiösen Fundamentalismus unterscheidet, den sie zu bekämpfen bemüht sind?
Funktional ist das Kopftuch ein Schamtuch: Es definiert, wie viel eine Frau von ihrem Körper der Öffentlichkeit zeigen will. Nach meinem Empfinden sollte niemand einer Frau dies vorschreiben dürfen: weder ihr Vater noch ihr Ehemann noch der Bruder, kein Atatürk, kein Erdogan und auch keine Schulsenatorin. Es ist das unveräußerliche Recht jeder Frau, dies selbst zu entscheiden. Der Versuch der Standardisierung der Scham durch einen staatlichen Enthüllungszwang für Berliner Lehramtsbewerberinnen ist in meinen Augen genauso übergriffig wie der groteske Versuch einiger südfranzösischer Gemeinden, den Burkini zu verbieten und einen Bikinizwang für Muslimas am Badestrand einzuführen. Er widerspricht auch allen Bemühungen um Inklusion. Denn Exklusion von muslimischen Lehrerinnen führt nicht zur Integration, geschweige denn zur Inklusion.Exklusion muslimischer Lehrerinnen führt weder zu Integration, noch zu Inklusion.
Wir werden in den kommenden Jahren auf die multikulturelle, multilinguale und multireligiöse Kompetenz von Pädagoginnen muslimischen Glaubens – gleich ob mit oder ohne Kopftuch! – noch sehr angewiesen sein, um die Integration der weiter zu uns strömenden Flüchtlinge aus der islamischen Welt in die multireligiöse, freiheitlich-demokratische Bundesrepublik einigermaßen friedlich zu schaffen. Da könnte es zu denken geben, dass in toleranten Einwanderungsgesellschaften wie z. B. Großbritannien, Kanada oder Australien niemand etwas dagegen hat, wenn hoheitsbefugte Beamte religiös motivierten Kopfschmuck tragen. Er bewirkt in diesen Ländern keinerlei Zweifel an der Gesetzestreue solcher Staatsdiener, sondern lehrt die Jugend geradezu umgekehrt, dass Menschen jeglicher Religion genauso entschieden wie Atheisten das für alle geltende staatliche Gesetz zu lehren und zu verteidigen bereit sind. Solche Vorbilder braucht auch Berlin sehr dringend.
Ach, übrigens: Die schwarz-rot regierte bayerische Landeshauptstadt – immer noch stark christlich geprägt! – warb kürzlich unter anderem auch mit einer Kopftuchträgerin um Nachwuchserzieherinnen für Münchens öffentliche Kitas. Liberalitas Bavariae versus laizistische Berliner Selbstgerechtigkeit? Vielleicht nur einfach Weitblick angesichts einer völlig veränderten Bevölkerungssituation in Deutschland 2017.