Antisemitischer Vorfall an Berliner Schule : Muslimische Jugendliche haben häufiger antisemitische Einstellungen als deutschstämmige

Die Abwertung, Diskriminierung und Gewalt in einer Berliner Schule gegen einen Jugendlichen mit jüdischem Glauben sorgt für Aufregung. Dabei wird nach bisherigem Kenntnisstand davon ausgegangen, dass es arabisch- und türkischstämmige Mitschüler waren, die diesen Jugendlichen so traktiert haben, dass sich die Eltern gezwungen sahen, ihn zu seinem Schutz von der Schule zu nehmen. Dass es gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit von Minderheiten gegen Minderheiten gibt, wird verdrängt.
Wie ist dies einzuordnen? Zumeist dominiert der Blick auf das Verhältnis der deutschstämmigen Mehrheit dieser Gesellschaft zu Minderheiten, die im Sinne der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit abgewertet und diskriminiert werden und zum Teil Gewalt ausgesetzt sind. Das gilt etwa für den Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft, der entsprechend kritisch beleuchtet wird. Vielfach wurde und wird dabei zugleich übersehen – beziehungsweise medial oder politisch verdrängt –, dass es diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auch von Minderheiten gegenüber Minderheiten gibt. Türkisch- und arabischstämmige Jugendliche weisen signifikant höhere antisemitische Einstellungen auf als deutsche.
Die Frage stellt sich nun, ob es sich in diesem konkreten Fall, um einen Einzelfall handelt oder um verbreitete antisemitische Einstellungen unter muslimischen Jugendlichen. Dazu kann ein Blick in unsere Bielefelder Untersuchung von 2013 nützlich sein, in der wir antisemitische Einstellungen bei 2400 deutschen, türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen untersucht haben.
Die Vergleiche zeigen, dass die türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen signifikant höhere antisemitische Einstellungen aufwiesen als deutsche Jugendliche deren feindselige Einstellungen damit nicht relativiert werden können. Aber die Unterschiede bleiben relevant, wie sich an wenigen empirischen Facetten zeigt. Beim israelbezogenen Antisemitismus, der auf die Politik Israels gegenüber Palästinensern zielt (unsere Frage war: „Bei der Politik, die Israel betreibt, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“), stimmten 44 Prozent der arabischstämmigen Jugendlichen zu. Bei den türkischstämmigen waren es 21 Prozent. Aussagen zum religiös begründeten Antisemitismus („ ... sind es die Juden, die die Welt ins Unheil treiben“) stimmen 22 Prozent der arabischstämmigen Jugendlichen gegenüber 13 Prozent bei türkischstämmigen. Aussagen zum klassischen Antisemitismus („Juden haben in der Welt zu viel Einfluss“) sind es 36 Prozent der arabischstämmigen Jugendlichen, die zustimmen und 21 Prozent der türkischstämmigen Jugendlichen.Die Dichotomie von "Gläubig" und "Ungläubig" führt zu moralischen Überlegenheitsphantasien.
Wie sich die vermehrte Zuwanderung aus den arabischen Gesellschaften – vor allem durch die Fluchtbewegungen – auswirkt, ist unklar. Neue Untersuchungen dazu stehen noch aus.
Was könnten Erklärungen sein? Die Religion hat unter muslimischen Jugendlichen einen eminent hohen Stellenwert als Identitätsanker in einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, in der undifferenzierte Islamkritik beziehungsweise Islamfeindlichkeit existiert und in der sie enorme Anerkennungsprobleme haben. Hinzu kommen die religiös vorgeprägten Dichotomien von „Gläubig“ und „Ungläubig“, die moralische Überlegenheitsphantasien erzeugen – auch gegenüber der christlich dominierten Umwelt.Echte oder medial vermittelte Opfererfahrungen arabischstämmiger Jugendlicher sind eine Ursache des Antisemitismus.
Im Falle der arabischstämmigen muslimischen Jugendlichen kommen tatsächliche oder medial vermittelte Opfererfahrungen durch die israelische Politik gegenüber Palästinensern hinzu, die dann stellvertretend aggressiv auf deutsche Jugendliche jüdischen Glaubens übertragen werden. Der „Kampf um die Opferrolle“ ist ein gefährlicher Mechanismus, weil ein moralischer „Vorteil“ beansprucht wird, um durch Selbstermächtigung zu Abwertungen, Diskriminierungen und Gewalt zu greifen – und Zustimmungen in den jeweiligen Milieus zu erfahren.Die muslimische Gemeinde muss eine offene Debatte über die Ursachen des Antisemitismus führen.
Daraus ergibt sich die immerwährende Frage: Was tun? Im Falle des diskriminierten und misshandelten Berliner Jugendlichen ist die naheliegende Konsequenz des psychischen wie physischen Schutzes, ihn in eine andere Schule zu schicken. Weniger naheliegend ist die Reaktion der betroffenen Schule, die Täter der Schule zu verweisen. Dies verschärft den Opfermythos und führt eher noch zu Radikalisierungen. Die Kernfragen lauten: Wie gehen die muslimischen Gemeinschaften mit der Dichotomie von „Gläubig“ versus „Ungläubig“, den damit verbundenen Überlegenheitsphantasien und dem alles legitimierenden Opfermythos um?
Wenn dazu keine offene Debatte innerhalb der Gemeinschaften geführt wird, stehen uns schwere Zeiten bevor – und nicht nur deutschen Jugendlichen mit jüdischem Glauben.
Nicht zuletzt bleibt die Frage, ob die soziale Anerkennung der Mehrheitsgesellschaft zu einer Veränderung beiträgt. Bereits unsere Untersuchung von 1997 zum „Verlockenden Fundamentalismus“ hatte gezeigt, dass Desintegrationsgefahren und Anerkennungsdefizite muslimische Jugendliche in die Nähe von radikalen Milieus führen können.
Wilhelm Heitmeyer ist Soziologe. Von 1996 bis 2013 leitete er das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.