Gefahr der Ungenauigkeit : Die Bestimmung der „Biogeographischen Herkunft“ – eine voraussetzungsreiche Methode

Aus wissenschaftlicher Perspektive gibt es viele Einwände gegen eine Einführung der Erweiterten DNA-Analysen, wie sie die Politiker momentan planen (siehe www.stsfreiburg.de). Dieser Beitrag konzentriert sich auf das häufig missverstandene Konzept der „biogeografischen Herkunft“. Wie die wissenschaftlichen Fehlerquellen zu gravierenden Fehlentwicklungen in der Anwendung führen können, zeigt der Causa-Beitrag von Anna Lipphardt. Andere Aspekte, z.B. die unterschiedliche Bewertung der Aussagekraft von autosomaler und mtDNA/Y-chromosomaler DNA, bleiben aus Platzgründen außen vor.
Die Befürworter der Gesetzesinitiative geben an, die "kontinentale biogeographische Herkunft" eines Menschen ließe sich anhand der DNA pauschal zu 99,9% Wahrscheinlichkeit ermitteln. In der Praxis dürfte dieser Wert selten erreicht werden. Weshalb?
Bei der „biogeografischen Herkunft“ (kurz bgH) handelt es sich um ein statistisches Konzept, das sich auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsberechnungen der Region annähert, aus der die Vorfahren einer Person stammen, deren DNA z.B. an einem Tatort gefunden wurde. Es beruht auf der Annahme, dass die genetischen Unterschiede zwischen Menschen umso größer sind, je weiter voneinander entfernt ihre Vorfahren lebten; oder, dass es genetische Unterschiede zwischen „Populationen“ gibt und diese sich in der DNA einer Person widerspiegeln, abhängig davon, aus welcher Population ihre Vorfahren stammen. Das Spannungsverhältnis zwischen „Region“ und „Population“ ist dabei nicht zu unterschätzen.
Um die bgH einer Person zu bestimmen, sie also einer bestimmten Population zuzuordnen, braucht man eine genaue Kenntnis der genetischen Unterschiede zwischen Populationen, oder der geografischen Verteilung. Dazu benötigt man zunächst umfassende genetische Vergleichsdaten. Genetiker erheben also für bestimmte Regionen Referenz-DNA-Daten der dort ansässigen Bevölkerung. In das Referenzdatenset, das stellvertretend für die „bgH“ einer bestimmten Region steht, werden i.d.R. DNA-Daten von Menschen aufgenommen, deren vier Großeltern vermutlich aus derselben Gegend stammen (z.B. weniger als 80 km vom Geburtsort der Person entfernt). Die so erhobenen Daten sollen möglichst die seit Generationen ortsansässige Bevölkerung repräsentieren.
Wenn nun für eine DNA-Spur die „bgH“ bestimmt werden soll, gleicht man sie mit den Daten einer Referenzdatenbank ab; dort wird sie derjenigen Region zugeordnet, mit deren Referenzdaten-Population sie die meisten genetischen Ähnlichkeiten aufweist. Bei einer regional überschaubaren Familiengeschichte ist die Einordnung klar – aber nur, wenn entsprechende Referenzdaten in der verwendeten Datenbank vorhanden sind. Verschiedene Datenbanken können für dieselbe DNA zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die derzeit verfügbaren Referenzdatenbanken sind lückenhaft, sie decken nicht alle Weltregionen gleich gut ab – der Mittlere Osten ist z.B. in genomweiten Datenbanken nicht gut repräsentiert –, und es ist fraglich, ob globale Repräsentativität mit ethisch vertretbaren Mitteln je zu erreichen ist.Die verfügbaren DNA-Referenzdatenbanken sind lückenhaft und decken nicht alle Weltregionen gleich gut ab.
Ausgedehnte interkontinentale Grenzregionen (z.B. der Mittelmeerraum, der Mittlere Osten), die schon immer Kontaktzonen zwischen vielfältigen Bevölkerungsgruppen waren, machen die Bestimmung der kontinentalen bgH sehr schwierig. Das größte Problem sind nämlich Wanderungen und sogenannte „mixed ancestry“: Die „bgH“-Bestimmung funktioniert weniger gut bei Menschen, deren Vorfahren nicht nach den strengen Residenz-Regeln der bgH-Bestimmung gelebt haben. Zugespitzt gesagt: Mit 99,9% Sicherheit lassen sich nur Personen zuordnen, in deren Familiengeschichte seit vielen Generationen keine Kinder mit „Ortsfremden“ gezeugt wurden, und die aus einer der gut erfassten Referenzpopulationen stammen. Dies trifft jedoch nur für einen sehr kleinen Anteil der Bevölkerung zu, denn die Menschheitsgeschichte und auch die deutsche Geschichte ist von jahrhundertelangen Migrationsbewegungen und genetischem Austausch zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gruppen geprägt.Historische Migrationsbewegungen erschweren die eindeutige geografische Zuordnung von DNA-Spuren erheblich.
Neben freiwilligen Sexualkontakten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gruppen gab und gibt es zudem vielfältige Formen unfreiwilliger Sexualkontakte, wie z.B. die sexuelle Übergriffigkeit gegenüber Frauen einheimischer Bevölkerungen durch Vertreter des europäischen Kolonialismus, oder Massenvergewaltigungen im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen, ein Phänomen auch der jüngsten europäischen Vergangenheit. Viele Europäer wissen gar nichts von der „mixed ancestry“ oder der fernen Herkunft ihrer Vorfahren. Zudem sind freiwillige und unfreiwillige Sexualkontakte zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gruppen – vor allem, wenn sie außerhalb fester Partnerschaften stattfanden – bis heute oft mit Tabus belegt, was dazu führen kann, dass sie in offiziellen Familiengeschichten verschwiegen werden.
So sind etwa die Ergebnisse einer aktuellen Studie von ancestry.com in Großbritannien zu erklären, bei der es darum ging, die DNA eines gesamten Dorfes zu erfassen und zu analysieren. Laut offizieller Bevölkerungsstatistik sind die Einwohner von Blendigton, einem kleinen Dorf in der Nähe von Oxford, zu 95% „white British“; mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer gaben an, zu „100% English“ zu sein. Die DNA-Untersuchung ergab indes, dass dies für keinen der 120 Studienteilnehmer zutrifft. Laut DNA-Analyse waren nur 42% der DNA des durchschnittlichen Dorfbewohners anglo-sächsischen Vorfahren zuzuordnen, während andere Vorfahren der Dorfbewohner aus insgesamt 18 weiteren Weltregionen stammten.
Oder z.B. Afghanistan, zwischen Europa und Asien gelegen: Es mag afghanische Staatsbürger geben, deren Vorfahren den bgA-Kriterien entsprechen, so daß ihre DNA auf einer Landkarte dem heutigen Afghanistan zugeordnet wird. Andererseits ordnen bgA-Analysen auch viele Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit in Afghanistan ein, obwohl ihre Familien seit Generationen hunderte oder tausende Kilometern entfernt leben. Afghanistan ist ein multi-ethnisches Land; die Referenzdaten sind sehr lückenhaft. Bei bgA-Analysen werden manche Menschen mit afghanischer Staatsangehörigkeit dem asiatischen, andere dem europäischen Raum zugeordnet. Weder der Geburtskontinent noch das Geburtsland einer Person können in diesem Fall anhand einer bgA-Untersuchung zu 99,9% vorhergesagt werden.
Diese Unsicherheitsfaktoren stellen für Genetiker eine große Herausforderung bei der Herkunftsbestimmung dar; vor allem für Forensiker, die auf keine begleitenden Informationen zur Familiengeschichte eines unbekannten DNA-Trägers zurückgreifen können. Diese Faktoren prägen außerdem die Referenz-DNA-Daten selbst, da viele freiwillige Spender, ob wissentlich oder nicht, unzutreffende Angaben zu ihrer Familiengeschichte machen.
Die biogeographische Herkunftsanalyse erlaubt außerdem nur sehr begrenzt Aussagen über das Aussehen eines DNA-Trägers und keine direkte Aussage über seine ethnische Zugehörigkeit, seine Staatsangehörigkeit oder seinen Geburtsort. Davon gehen jedoch nicht nur viele Laien, sondern auch zahlreiche Polizeivertreter, politische Entscheidungsträger und selbst einige Forensiker in Deutschland aus. Während Peter Schneider, Vorsitzender der Gemeinsamen Spurenkommission, in einer Stellungnahme (14.12.2016) explizit davor warnt, „den Begriff der ‚Ethnizität‘ oder ‚Ethnie‘ im Zusammenhang mit der genetischen Herkunftsbestimmung [zu verwenden], da soziale, kulturelle oder religiöse Kriterien dabei keine Rolle spielen“, meinen andere Forensiker, wie die Diskussion auf dem Blog des Forensikers Cornelius Courts zeigt, die „ethnische Zugehörigkeit“ eines mutmaßlichen Täters könne „objektiv“ aus dessen DNA bestimmt werden. Hier besteht also noch Klärungsbedarf – innerhalb der forensischen Community, der Polizei und der Justiz, aber auch im Austausch mit Sozial- und Geisteswissenschaftlern, die maßgeblich zur analytischen Differenzierung und zur Überwindung reduktionistischer Sichtweisen auf das komplexe soziale Konstrukt der „Ethnizität“ beigetragen haben.Die DNA-Analyse erlaubt weder direkte Aussagen über ethnische Zugehörigkeiten noch über die Staatsangehörigkeit
Auch die Bestimmung von äußerlich sichtbaren Merkmalen wie Haut-, Augen- und Haarfarbe ist nicht so sicher, wie in den Gesetzesentwürfen behauptet wird: Die angeführten Prozentzahlen sind nämlich keine Vorhersagegenauigkeiten, sondern sogenannte „AUCs“. AUCs sind jedoch nicht die Wahrscheinlichkeitswerte, die Ermittler benötigen, um ihre Ermittlungen zu priorisieren. Hier werden „posterior probabilities“benötigt. Unkenntnis über statistische Zusammenhänge kann zu falschen Schlussfolgerungen führen. Zudem sind die Vorhersagegenauigkeiten nur für ganz bestimmte Ausprägungen eines Merkmals hoch, etwa für schwarze Haare. Sämtliche Mischfarben – auch für Haut und Augen – werden mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit vorhergesagt. Die Kombination mehrerer Informationen macht die Analyse nicht einfacher und sicherer, sondern komplexer und unsicherer.
Zentrale Fragen sind also noch offen; viele der grundlegenden Probleme werden sich auch durch noch so gute genetische Analysemethoden nicht lösen lassen. In Großbritannien gehen Forensische Genetiker angesichts dieser Komplexität mit größter Vorsicht an die Arbeit; in ihre Gutachten schreiben sie nur Informationen, die sie mit sehr hoher confidence erzielen. Fehlerquellen werden reflektiert und in multidisziplinären Expertengremien diskutiert; die Methoden kommen äußerst selten zum Einsatz, öffentlicher Druck dafür wird nicht ausgeübt.Die Befürworter einer Erweiterung sollten auf die Schwächen der Methode hinweisen.
Weshalb die mit den Methoden vertrauten deutschen Wissenschaftler, auf die Polizei und Politik sich bei der aktuellen Gesetzesinitiative beziehen, nicht explizit auf deren Schwächen hinweisen oder die bedenklichen Gesetzesentwürfe deutlicher kritisieren, bleibt rätselhaft. Genauso wie die mangelnde Bereitschaft der Befürworter, sich mit den differenzierten Qualitätssicherungsmaßnahmen und Regulierungen auseinanderzusetzen, die in den Niederlanden oder Großbritannien entwickelt worden sind und dort beim seltenen Einsatz erweiterter DNA-Analysen angewendet werden.