Naturwissenschaftliche Fächer stärker gewichten : Bedeutung von Latein ist überschätzt

Die Konkurrenz um schulische Lernzeit ist groß, deshalb bedürfen alle unterrichteten Inhalte einer Rechtfertigung, die je nach Fach unterschiedlich ausfallen kann. Dass im Deutsch- Mathematik- und Englischunterricht Kompetenzen erworben werden, die unabhängig von der Studien- und Berufswahl gebraucht werden, ist unbestritten. Naturwissenschaftliche Fächer sowie Geschichte und Geographie vermitteln Wissen, welches hilft, die Welt, in der wir leben, besser zu verstehen.
Über mehrere Jahrhunderte waren Kenntnisse in Latein und Altgriechisch unabdingbar für ein Weltverständnis im akademischen Sinne, weshalb diese Fächer berechtigterweise eine zentrale Stellung in Schulen einnahmen, die auf eine Universitätsbildung vorbereiten sollten. Gymnasien wurden deshalb auch Lateinschulen genannt. Aber die Zeiten änderten sich. Vor mehr als dreihundert Jahren wurde Latein als alleinige Wissenschaftssprache durch europäische Sprachen abgelöst, die spätestens im 19. Jahrhundert dominierten. Lateinkenntnisse als Voraussetzung für Weltaneignung entfiel als Begründung, was der Stellung des Schulfachs jedoch keinen Abbruch tat.
Als Rechtfertigung dienten fortan Annahmen über die Förderung geistiger Kompetenzen, die sich bis zum heutigen Tag gehalten haben: Von der Beschäftigung mit der stark regelgeleiteten lateinischen Grammatik wird ein Trainingseffekt auf formales und logisches Denken erwartet, der sich angeblich wiederum positiv auf den Erwerb anderer komplexer Inhalte - auch im mathematisch- naturwissenschaftlichen Bereich auswirkt. Solche Versprechungen werden auch von anderer Seite gemacht. Mal wird behauptet, dass das Spielen eines Musikinstrumentes schlau macht, mal ist es das Schachspiel. In den letzten Jahren wurde Gehirnjogging – vorwiegend als Computerspiel angeboten – als Methode zur Steigerung der Lernfähigkeit angepriesen. Latein lernen fördert die allgemeine Lernfähigkeit der Schüler nicht.
Aus der Sicht der Lernforschung sind Versprechungen, die auf eine allgemeine Steigerung der Lernfähigkeit abzielen, nicht haltbar. Lernen muss als Aufbau von inhaltsspezifischen Wissenselementen (z.B. Regeln, Strategien, Prozeduren, Fakten, Begriffe) verstanden werden, die sich auf verwandte Gebiete übertragen lassen, während ein unspezifisches Training der geistigen Effizienz nicht möglich ist. Da die Regeln der lateinischen Sprache und die Gesetzmässigkeiten der Mathematik und der Logik nichts miteinander zu tun haben, kann hier kein Transfereffekt erwartet werden. Dass dies tatsächlich der Fall ist, konnten der ehemalige Lateinlehrer und Bayreuther Pädagogikprofessor Ludwig Haag und ich in einer gut kontrollierten Studie zeigen. Nicht einmal ansatzweise konnte ein positiver Effekt des Lateinlernens auf das logische Schlussfolgern oder die Leistung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich nachgewiesen werden. Dieser Befund wurde kürzlich noch einmal von einer österreichischen Arbeitsgruppe an einer anderen Stichprobe bestätigt. Die Bedeutung von Latein für das Erlernen anderer Sprachen wird überschätzt.
Zeigen konnten Ludwig Haag und ich hingegen, dass Schüler mit fortgeschrittenen Lateinkenntnissen beim Finden von in deutsche Texte eingebauten Grammatikfehlern besonders erfolgreich waren. Die Strategie, beim Übersetzen lateinischer Sätze den Wortendungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wurde offensichtlich auf das Korrekturlesen übertragen. Naheliegend ist auch ein positiver Wissenstransfer von Latein auf andere Fremdsprachen, aber hier wird der spezifische Nutzen des Fachs nicht selten überschätzt. Für einen Spanischkurs konnten wir zeigen, dass Teilnehmer mit Französischkenntnissen in der Abschlussprüfung besser abschnitten als Teilnehmer mit Lateinkenntnissen. Die naturwissenschaftlichen Fächer müssen stärker gewichtet werden.
Allgemeinbildende Schulen haben den Auftrag, Heranwachsende zu selbständig denkenden Menschen zu erziehen, die in einer durch Wissenschaft und Technik geprägten Gesellschaft verantwortungsvoll handeln sollen. Es ist überfällig, die schulischen Lerninhalte auf diese Anforderung abzustimmen – beispielsweise durch eine stärkere Gewichtung der naturwissenschaftlichen Fächer sowie insbesondere auch Informatik.